Geschichte und Bestand

Ärztebibliothek Heese an St. Walburga zu Werl

Die Propstei St. Walburga zu Werl bewahrt neben der eigentlichen Propsteibibliothek Bibliotheca Wedinghausano-Werlensis die außergewöhnliche und in ihrer Zusammensetzung einzigartigen Werler Ärztebibliothek Dr. med. Friedrich Heese aus dem Nachlass der gleichnamigen Familie auf. Nachdem die Sammlung viele Jahre vernachlässigt worden war, konnte vor einiger Zeit ein Konzept für ihre Sicherung und Erschließung erarbeitet werden. Grundlage dafür bot die Tatsache, dass die Erschließung alter, wertvoller und schützenswerter Drucke eine dringende, im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe der Pflege beweglicher Denkmäler darstellt. Mit Rücksicht auf die heutigen technischen Möglichkeiten beabsichtigten die am Erschließungsprojekt beteiligten Kooperatoren, in jedem Fall eine moderne EDV-gestützte Katalogisierung mit überregionalen, komfortablen Recherchemöglichkeiten durchzuführen. Gleichzeitig waren die Anforderungen der Buchpflege und Maßnahmen der Bestandserhaltung sowie eine angemessene Restaurierung bedrohter Buchexponate so zu berücksichtigen, dass die finanziellen Ressourcen, die durch die großzügige Unterstützung der Kulturstiftung der Sparkasse Werl erheblich erweitert werden konnten, geschickt ausgenutzt wurden. Das von der Pfarrgemeinde St. Walburga und der Arbeitsstelle „Historische Bestände in Westfalen“ an der Universitäts- und Landesbibliothek Münster gemeinsam durchgeführte Bearbeitungsprojekt der beiden historischen Bibliotheken wurde schließlich in den Jahren 1998/99 begonnen; inzwischen sind die Bücher – soweit sie restauriert sind – weitestgehend wieder in die Räume der Propstei zurückgebracht worden und können dort nach voheriger Rücksprache mit der Propstei eingesehen werden.

Dr. Johann Friedrich Heese – Landarzt in Werl

medizinische Abbildung
© ULB

Die Bibliothek Heese geht auf den Werler Arzt Dr. Johann Friedrich Heese (1792–1848) zurück. Er heiratete 1832 als 40-jähriger die 44-jährige Witwe und spätere Stifterin des Werler Hospitals Maria Anna Wilhelmina Ley (1788–1863), die er bereits seit frühester Jugend gekannt haben muss, da sie in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander gelebt hatten. Die Ehe blieb kinderlos. Über das Leben Heeses und seiner Frau ist nur sehr wenig bekannt; man wird wohl annehmen dürfen, dass Heese „als Landarzt eine ausgedehnte Kundschaft per Pferd oder Kutsche zu betreuen hatte (und dafür) in einem überschaubaren Rahmen seines privaten Umfeldes einen Ausgleich gefunden zu haben“ [1] scheint. Der Werler Stadtarchivar Heinrich Josef Deisting schreibt weiter über Heese: „Man kann vermuten, daß der kinderlos verheiratete Dr. Heese [...] seine sicher knapp bemessenen Mußestunden in Gesprächen mit seiner Frau Marianne zubrachte und sich sonst vielleicht oft und gern der Lektüre seiner Bibliothek widmete.“[2] Am 24.5.1848 starb Heese vermutlich an den Folgen einer Typhusinfektion, die er sich während einer Epidemie in Ausübung seines Berufes zugezogen hatte; damit hatte Marianne Heese auch ihren zweiten Mann verloren, nachdem ihr erster Gatte, der Werler Kaufmann Johann Adolf Schlüter, nach 15-jähriger Ehe ebenfalls dieser Seuche zum Opfer gefallen war. Soziales Engagement, christliche Überzeugung und die Anteilnahme, die sie am aufreibenden Landarztberuf ihres Gatten genommen hatte, veranlassten Marianne Heese zu einem Testament, das ihren Nachlass in den Dienst an bedürftigen Kindern und Kranken stellte. Die medizinische Bibliothek ihres Mannes gelangte allerdings in den Besitz des ersten weltlichen Pfarrherren zu Werl, Bernhard Alterauge (Pfarrer von 1833–1882), mit dem Marianne Heese freundschaftlich verbunden war. In der Heese'schen Bibliothek befinden sich auch Teile der Bibliotheken der Werler Ärzte Wilhelm Josef Offermann, Pantaleon Ludwig Müller und Melchior Tyrell.

Die Büchersammlung Heeses

Obwohl die Bibliothek Heeses verglichen mit großen Gelehrtenbibliothek aus der Barockzeit einen vergleichsweisen bescheidenen Charakter hat, ist sie dennoch als typisches Zeitzeugnis für das geistige Umfeld eines Arztes anzusehen, der weitab von universitären Einrichtungen auf die wechselvollen Anforderungen der medizinischen Versorgung im ländlich geprägten Raum praktikable Antworten zu finden hatte. Die Bibliothek umfasst heute noch etwa 360 Titel in 160 Bänden vorwiegend des 18. und 19. Jahrhunderts. Bei den Werken handelt es sich hauptsächlich um chirurgische und anatomische Fachliteratur, neben der sich aber auch Schulbücher, Erbauungsschriften und Mäßigkeitsermahnungen finden. Die medizinischen Bände sind zum Teil sehr selten: Immerhin konnten 28 Prozent der vorhandenen Titel nicht im nordrhein-westfälischen Gesamtkatalog nachgewiesen werden. Heese selbst ist übrigens nicht als Fachbuchautor hervorgetreten, sondern hat seinen medizinischen Weg in der Tätigkeit als praktischer Arzt gefunden. Mit der Promotionsschrift „De Cancro“ von 1817, vorgelegt an der damals neu gegründeten Königlichen Universität in Berlin (heute Humboldt Universität), legte er eine Abhandlung über das damals zugängliche Wissen über das Krebsleiden vor und schloss damit zugleich seine akademisch wissenschaftliche Laufbahn ab. Der größere Teil dieser Arbeit widmet sich eindeutig der praktischen Seite, da hier die „medikamentösen Behandlungsmaßnahmen“ [3] intensiv besprochen werden. Daneben finden sich unter den Büchern zahlreiche Manuskripte und Vorlesungsmitschriften des Werler Arztes, die allein mehr als 1750 Seiten umfassen und Studienschwerpunkte des jungen Heese spiegeln.

Die Charakteristik des Bestandes

Abbildung aus einem Buch
© ULB

Im Bestandskatalog widmen sich zwei Fachaufsätze der Bibliothek, dem Sammler und der Stifterin: Zunächst stellt die Medizinhistorikerin Irmgard Müller in ihrem Beitrag „Die Werler Ärztebibliothek“ den Werdegang Heeses und vor allem das breite Spektrum seiner medizinischen Bibliothek vor. Mit ihrer Studie dringt sie tief in Geschichte und Struktur der Sammlung ein. Der Aufsatz stellt ein Musterbeispiel von gelungener Wissenschaftsvermittlung dar: Präzise in der Sache, detailliert in Argumentation und Nachweis; die Ausführungen vermitteln auch dem medizinischen Laien einen ausgezeichneten Einblick in diese in Westfalen so einzigartige historische Bibliothek. Ein Auszug aus dem Aufsatz von Frau Müller vermittelt einen Eindruck von der interessanten Sammlung medizinischer Bücher: „Die Sammlung medizinischer Literatur in der Werler Propstei ist um den Kernbestand zentriert, der aus der einstigen Bibliothek des Werler Arztes Dr. med. Friedrich Heese (1792–1848) hervorgegangen ist. Das Themenspektrum, die Quantität und Qualität dieser Bände tragen durch ihren einstigen Besitzer einen einheitlichen Charakter und sind streng an die Bedürfnisse des Medizinstudiums im 1. Viertel des 19. Jahrhunderts orientiert. Entsprechend reicht die Literatur, bis auf wenige Ausnahmen, nicht über die 20er Jahre des 19. Jahrhunderts hinaus; soweit überprüfbar, erloschen mit der Promotion (1817) die literarisch-wissenschaftlichen Aktivitäten des Landarztes, der auch keine erkennbaren enzyklopädischen oder bibliophile Neigungen besaß. Der hohe Anteil an Kompendien, die schnellen und gezielten Kenntniserwerb verhießen und die die Anschaffung kostspieliger Originalwerke in der Regel überflüssig machten, spricht vielmehr dafür, dass Kriterien der Zweckmäßigkeit und Rentabilität die Auswahl der Literatur bestimmt haben. Überflüssiges wie Liebhaberausgaben, Pracht- oder Tafelbände sucht man vergebens, bei vielbändigen Werken war das Ideal der Vollständigkeit weniger bedeutsam, offensichtlich reichte es aus, wenn das benötigte Teilgebiet beschafft wurde.

Dieser ursprünglich einheitliche Charakter der Keimzelle ging durch die spätere Vermischung mit medizinischer Literatur aus verschiedensten Jahrhunderten und unterschiedlichsten Provenienzen, die nur in wenigen Fällen rekonstruierbar sind, verloren. Der sporadische Zuwachs hat die Sammlung zwar außerordentlich bereichert, ihr aber auch ein heterogenes Profil verliehen, das vom Zufall geprägt ist und keiner Systematik folgt. Das vereinigende Band ist vermutlich allein die gemeinsame regionale Herkunft der Besitzer, wenn auch bisher der Nachweis dafür nur in Teilen gelungen ist. Vielleicht hatte sich die Werler Pfarrei durch ihre schützende Hand, die sie über die Heese-Bibliothek hielt, im Bewusstsein ihrer Bürger mangels anderer geeigneter Einrichtungen allmählich zu einer Art Rettungs-Station für Spenden 'verunfallter' oder herrenlos gewordener, medizinischer Bücher entwickelt und so passiv zur Entfaltung der Bestände in alle Richtungen beigetragen. Die fehlende Systematik und mangelnde Geschlossenheit der Sammlung indes gereichte der Bibliothek nicht zum Nachteil, sie sind zugleich auch ihre Stärke, und werden reichlich kompensiert zum einen durch ihre uneingeschränkte Offenheit für alle medizinischen Strömungen und mannigfachen Krankheitskonzepte, die in der Werler Bibliothek mit ihren bedeutensten Vertretern greifbar sind, zum anderen durch die Fülle von wenig bekannten, erlesenen Einzelschriften, die es lohnt, wieder ans Tageslicht zu bringen“ [4]. Neben der medizinhistorischen Forschung steht die lokalhistorische Betrachtung: Wie auch im Bestandskatalog zur Bibliotheca Wedinghausano-Werlensis stellt der Werler Stadtarchivar Heinrich Josef Deisting seine profunden Kenntnisse in den Dienst der Sache, indem er mit seinem Aufsatz "Zur Geschichte der Familie Heese in Werl" die familiären Beziehungen Heeses zu Werler Bürgern beleuchtet und so manchen Anstoss zu weiteren Nachforschungen gibt.

Text: Martin Malaschinsky

Fußnoten

[1] Deisting, Heinrich Josef: Zur Geschichte der Familie Heese in Werl
in: Die Werler Ärztebibliothek. Katalog der Werler Ärztebibliothek Dr. med. Friedrich Heese an St. Walburga, hrsg. v. Reinhard Feldmann, Münster 2000, 53–55, hier: 54
[2] Ebd.
[3] Müller, Irmgard: Die Werler Ärztebibliothek. Anmerkungen zum Bestand und zum Stifter der medizinischen Büchersammlung, Dr. med. Friedrich Heese (1792–1848) in Werl
in: Die Werler Ärztebibliothek. Katalog der Werler Ärztebibliothek Dr. med. Friedrich Heese an St. Walburga, hrsg. v. Reinhard Feldmann, Münster 2000, 11–51, hier: 13
[4] Ebd. 44. zurück zum Text