Cod 59 – Dycksche Handschrift
Die Bedeutung, die sich Münster als Zentrum der deutschen Niederlande-Forschung erworben hat, gab den Ausschlag dafür, dass ein Literaturdenkmal europäischen Ranges im Jahre 1991 an die Universität Münster verkauft wurde und seitdem in unserer Bibliothek aufbewahrt wird: die Dycksche Handschrift (Cod 59).
Bei der Dyckschen Handschrift handelt es sich um einen Codex von 124 Pergamentblättern aus dem Familienbesitz Salm-Reifferscheidt zu Dyck, unweit von Neuß. Es wird angenommen, dass die Handschrift im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts – dem Dialekt nach zu urteilen − in den westlichen Niederlanden entstanden ist. Klar ist, dass sie spätestens zu Beginn des 15. Jahrhunderts Familienbesitz der Grafen von Salm-Reifferscheidt wurde. Die Handschrift ist eine reine Texthandschrift, ausgeführt von einer Hand. Die künstlerische Ausgestaltung beschränkt sich auf 13 abwechselnd rot und blau ausgemalte Initialen. Der Erhaltungszustand ist hervorragend.
Die Dycksche Handschrift vereinigt zwei mittelniederländische Texte:
- Ihre außerordentliche Bedeutung beruht auf dem zweiten Text: Van den vos Reynaerde (Reineke Fuchs), ein Literaturdenkmal von europäischem Rang. Geschaffen wurde das Tierepos von einem flämischen Dichter, dessen Namen als Willem überliefert ist. Sein "Reynaerd" ist nur in zwei Quellen vollständig erhalten, eben der Dyckschen Handschrift und der Comburger Handschrift (Württembergische Landesbibliothek Stuttgart). Die Dycksche Handschrift ist etwa 150 Jahre nach der Schöpfung des Textes durch Willem entstanden, die Comburger Version schätzungsweise ein halbes Jahrhundert später. "Van den vos Reynaerde" ist einer der bedeutendsten Beiträge der Niederlande zur Weltliteratur. Der mittelniederländische Text ist Grundlage für die Verbreitung des Reineke-Themas in vielen Sprachen bis zum heutigen Zeitpunkt. Wichtige Stationen sind zum Beispiel die bei William Caxton in Westminster 1481 und 1489 erschienenen Nachdichtungen und der "Reynke de Vos" in Lübeck von 1498. Eine hochdeutsche Übersetzung von Gottsched aus dem Jahre 1752 regte schließlich Goethe zu seinem berühmten Epos von 1794 an.
- Auf den ersten 100 Seiten der Dyckschen Handschrift hat der Schreiber eine Nachdichtung aus dem Lateinischen mit dem Titel Der naturen bloeme festgehalten. Es handelt sich um eine Naturenzyklopädie des Thomas von Cantimpré, umgeformt von dem bedeutenden mittelniederländischen Dichter Jacob van Maerlant in 16.700 Versen. Auch der wissenschaftliche Wert dieses Textes ist hoch, zumal die Maerlant-Forschung erst in ihren Anfängen steht.
Eine ausführliche Beschreibung von Eef Overgaauw ist in der Manuscripta Mediaevalia zu finden.