Die Biografie eines Buches
AStA und Universitäts- und Landesbibliothek bereiten derzeit eine Ausstellung zum 80. Jahrestag der Bücherverbrennung vor. Dabei zeigen wir ausgewählte Exemplare der verbotenen Bücher aus den Jahren vor 1933 und nach 1945, die in der ULB stehen. Es könnte sein, dass sich darunter auch von den Nazis geraubte Bücher finden. Ihre ursprünglichen Eigentümer zu finden, ist ein aufwändiger Prozess:
11. April:
Tatsächlich, da ist er, der Stempel, auf den ich gehofft habe: Das Buch mit der Signatur SA 92985 ist gleich auf der zweiten Seite als „Nicht verleihbar!“ gebrandmarkt. Joseph Roths „Zipper und sein Vater“ stand wie alle Bücher des österreichischen Autors auf der so genannten „Herrmann“-Liste der Nationalsozialisten. Die Ausgabe von 1928 ist also eindeutig ein „Verbotenes Buch“. Aber ist es auch Raubgut der Nazis? Auf der Titelseite dann der Stempel „Geschenk“, es könnte also über die Reichstauschstelle in die Universitäts- und Landesbibliothek Münster gekommen sein. Diese Stelle sammelte Bücher ein und verteilte sie auf die Bibliotheken im Deutschen Reich. Und noch ein Stempel und ein weiterer Hinweis finden sich: Ursprünglich erhielt die Universität Erlangen das Buch.
Doch der wichtigste Hinweis fehlt, der auf den Vorbesitzer, der, so der Hinweis auf Erlangen, wohl aus dem süddeutschen Raum kam. Nirgendwo sind Anzeichen der so genannten „Provenienz“ zu finden. In anderen Büchern gibt es handschriftliche Notizen, durchgestrichene Namen der Vorbesitzer oder Widmungen, diese Ausgabe lässt keine Rückschlüsse zu. 1992, so verrät ein Aufkleber, wurde der Einband von Hermann Kleyer in Münster-Roxel neu gefertigt, das ist alles, was noch zu finden ist. Doch warum interessiert mich plötzlich das Schicksal eines Buches, das für 12,90 Euro in einer modernen Ausgabe zu bekommen ist, und dessen Autor mich noch nie sonderlich begeistern konnte? Vor allem halben Jahr besuchte Felix Höppner vom AStA der Uni die ULB mit dem Hinweis, dass sich am 10. Mai 2013 der Jahrestag der Bücherverbrennung zum 80. Mal jährt. Schnell entstand die Idee, in einer Kooperation eine Ausstellung dazu vorzubereiten.
Da ich in der ULB arbeite, kümmere ich mich darum, die Bücher zu herauszusuchen. Die meisten sind im Freihandmagazin im ersten Untergeschoss am Krummen Timpen zu finden. Immer wieder fasziniert mich die schiere Masse an Informationen, die hier gesammelt ist. Und amüsiert stelle ich mir vor, wie des Nachts der englische Roman mit seinem Nachbarn, dem Physiklehrbuch, wispert, denn die Bücher sind hier nicht nach Sachgebieten, sondern nach Eingangsdatum aufgestellt. Antje Gildhorn, die Dezernentin die Technischen Dienste, saust an mir vorbei, und kann mir sofort sagen, wo welche Signatur zu finden ist. Das beeindruckt mich, immer wieder verliere ich den Überblick über die schier unendlichen Regalreihen.
Während ich durch die teils zerfledderten und zerlesenen, teils neu wirkenden Exemplare blättere, wird mir eines klar: So gut und wichtig die neuen Medien gerade für Bibliotheken sind, so können sie doch nicht das gedruckte Buch ersetzen. Die sind Spiegel der Persönlichkeit ihrer Besitzer. Ein elektronischer Artikel von Elsevier verrät nicht, wie viele Studierende sich schon den Kopf über ihm zerbrochen haben. Die Zeitschriften-Ausgaben dagegen tragen die Spuren der Benutzung. Nur leider, mein Band mit der Signatur SA 92985 bleibt stumm und erzählt nichts von dem Menschen, der ihn einst angeschafft hat. War er Jude und kam in einem Konzentrationslager um? War sie eine gebildete Frau, die sich von Nationalsozialisten nicht die Lust an der Literatur verderben lassen wollte?
Vielleicht kann Elke Pophanken mir weiterhelfen. Die Bibliothekarin ist in der ULB zuständig für die Restitution, das heißt, die Rückgabe der geraubten Bücher. Eine ausgesprochen mühsame Arbeit, denn jedes Buch muss einzeln begutachtet werden, so wie mir durch Zufall aber jener Band von Joseph Roth in die Hände gefallen ist. Die Zugangsbücher aus den Jahren von 1933 bis 1945 sind glücklicherweise nicht zerbombt worden, so dass sich dort Hinweise wie die Reichstauschstelle als Geber finden lassen. Bisher einmal hatte sie Erfolg: 23 Bände einer Freimaurerloge konnten an Axel Pohlmann, Großmeister der Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland, zurückgegeben werden.
15. April:
Elke Pophanken hat Zeit für mich. Ich habe ihr noch verschiedene andere Bücher auf den Tisch gelegt, bei denen ich Raubgut vermute. Bei den meisten ist schnell klar: Ich habe übersehen, dass sie erst in den Jahren 1948/49 in die ULB kamen, offenbar antiquarisch angekauft, um die Verluste durch die alliierten Bomben auszugleichen. Mehrere Bücher weisen eine Provenienz auf: „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ von Brecht und Weill hat offenbar einem Menschen namens Heinermann gehört. Beim Googeln zeigt sich, dass es an der Universität Münster tatsächlich einen Professor dieses Namens gab, der nach 1945 entlassen worden war.
Aber wenn es sich tatsächlich um diesen Professor handelt, warum hatte er ein verbotenes Buch in seinem Bücherschrank? Da fallen mir meine Großeltern mütterlicherseits ein: Er in der NSDAP, sie im Frauenbund. Aber natürlich hatten sie im Bücherschrank alles stehen, was in der Weimarer Republik Rang und Namen hatte. „Glaube nicht, dass bei uns jemals ein Buch verschwunden wäre“, erzählt mir mein Onkel, ihr ältester Sohn. Verbieten konnten die Nazis also, aber nicht vernichten.
Was ist aber nun mit SA 92985? Es hat keine Zugangsnummer aus Münster, also können wir auch nicht im Zugangsbuch nachschlagen, woher es ursprünglich gekommen ist. Dafür eine handschriftliche Signatur, die absolut unüblich ist für bibliothekarische Gebräuche. Elke Pophanken empfiehlt mir, doch einmal in Erlangen nachzufragen. Inzwischen ist mir das Buch auch deshalb ans Herz gewachsen, weil ich selbst in Erlangen studiert habe.
Ich habe Glück, und treffe auf eine sehr engagierte Bibliothekarin. Eine Viertelstunde später bekomme ich eine Mail mit dem PDF der Karteikarte. Katalogisiert wurde der Band 1938. Und – viel wichtiger noch – der Vermerk „Bibliothek J. Klüber“ ist zu finden. Also google ich wieder – durchaus üblich bei der Suche nach Provenienzen - und stoße in dem Buch „Psychiatrie im Nationalsozialismus“ auf den Psychiater Josef Klüber, der bis 1936 das Heil- und Nervensanatorium in Klingenmünster leitete. Zuvor war er Oberarzt in Erlangen. Deutschnational eingestellt sei er gewesen und habe sich deshalb bereits 1930 mit den Nationalsozialisten angelegt und auch in den kommenden Jahren kam es immer wieder zu Konflikten. 1935 wurde er in seiner Dienstwohnung im Bett überfallen und schwer zusammen geschlagen. Daraufhin reichte er die Bitte um seine Entlassung zum 1. Januar 1936 ein und starb wenig später Mitte 1936. Die drei Nazis, die ihn zusammen geschlagen hatten, wurden übrigens wegen schweren Landfriedensbruches verurteilt. Und kurz darauf an Hitlers Geburtstag amnestiert …
16. April:
Ein Nazi-Gegner, das könnte doch passen in Sachen Raubbuch! Ich schreibe eine Mail nach Erlangen, um zu fragen, ob es sich tatsächlich um jenen Josef Klüber handelt. Richtig, kommt prompt die Antwort, das sei er. Seine Bibliothek sei als Geschenk an die UB Erlangen gegangen. Auch wenn die Nationalsozialisten gerne derlei behaupteten, bei Klüber kann es eigentlich keinen Zweifel geben: Für seine Bücher ließ er das ExLIbris: „Ich stiftete dieses Buch Gehet hin und tut desgleichen Dr. J. Klüber, Klingenmünster.“ anfertigen.
Was bewegt einen Bücherliebhaber dazu, seine Bücher einer der braunsten Universitäten im Dritten Reich zu schenken? Die Bibliothekarin kann es mir nicht sagen, betont aber, dass die UB im Gegensatz zur Uni nicht so „braun“ gewesen sei.
Ich will mehr über Klüber wissen. Im Internet ist nicht viel zu finden, außer, dass er ein großer Sammler von ExLibris gewesen sein muss, von denen er viele bei Künstlern für sich bestellt und die nun in der Bayerischen Staatsbibliothek aufbewahrt werden.
17. April:
Mir fällt der Kollege aus der Medizin ein, der Ahnenforschung betreibt. Kurze Zusammenfassung seiner Einführung ins Thema: Ich möge mich bei einer bayerischen Genealogen-Mailingliste eintragen und nach Nachfahren von Josef Klüber fragen. Und außerdem im zuständigen Standesamt nach der Todesurkunde fragen, häufig sei der Tod von Verwandten oder Nachfahren angezeigt worden.
Klüber sammelte ExLibris. Warum aber fehlt das in meinem Exemplar? Richtig, der Band war ja 1992 neu gebunden worden. Warum eigentlich? Der Buchblock selbst sieht ungebraucht aus. Vielleicht hat Klüber „Zipper und sein Vater“ nie gelesen. Ich rufe in Roxel an, den damaligen Buchbinder gibt es noch, man verspricht, dass er zurück ruft.
18. April:
Die Mail aus dem Standesamt ist ernüchternd: „Sehr geehrte Frau Nussbaum, nach Einsicht in den Sterberegistern von Klingenmünster haben wir unter dem angegebenen Sterbedatum, 15.08.1936, sowie auch 2 Jahre davor und danach keinen Sterbeeintrag von Herrn Dr. Josef Klüber gefunden.“
Seltsam. Michael von Cranach und Hans-Ludwig Siemen schreiben in „Psychiatrie im Nationalsozialismus“ präzise von Todesort und –tag. Ich versuche Michael von Cranach telefonisch zu kontaktieren und hinterlasse meine Nummer auf dem Anrufbeantworter.
19. April:
Kein Anruf von Cranach, keine Mail von den bayerischen Genealogen und ich weiß noch immer nicht, wie SA 92985 von Erlangen nach Münster gekommen ist. Immerhin kann ich die Signatur inzwischen auswendig. Inzwischen drängt auch die Zeit bis zur Ausstellungseröffnung, ich muss mich auch um die anderen Bücher kümmern. Ich bewundere Elke Pophanken für ihren Fleiß, ihre Geduld und ihren detektivischen Spürsinn. Wie ungeheuer schwer ist es, eine Provenienz zu finden – nur um dann am Ende festzustellen, dass es sich doch nicht um ein Raubbuch handelt. Aber das hat ja auch sein Gutes …
22. April:
Vielleicht sollte ich mich mal darum kümmern, was der Inhalt von SA 92985 ist. Tante Wiki hilft mir weiter: Erster Weltkrieg, Zerfall der Donaumonarchie, Auflösung einer Familie. André Schnepper, der die Vita von Joseph Roth für die Ausstellung geschrieben hat, beginnt sie mit einem Zitat aus „Zipper“: „Und beim Schriftsteller beginnt schon dort, wo er schweigt, die Lüge.“ Kein Wunder, dass der Österreicher Roth am 30. Januar 1933 nach Paris emigrierte.
Brigitte Nussbaum