Der „doppelte“ Stierlin
November 1851
Weitling entdeckt in Louisville, Kentucky im Büro des ehemaligen Anwalts am Oberlandesgerichts Münster Ludwig Stierlin, ein Exemplar der Übersetzung seiner „Garantien“, die dieser 1848/49 in Belgien angefertigt und zur Erinnerung an Prosper Esselens nach Louisville mitgenommen hatte. Es handelt sich um den ersten Teil von Weitlings „Garantien der Harmonie und Freiheit“, den „Le Peuple“ am 10. Mai 1849 als „sous La Presse“ angekündigt hatte.
Ca. 170 schriftliche Nachlässe (jährlich kommen neue hinzu) führten in der ULB Münster jahrzehntelang aufgrund fehlender Erschließung ein Schattendasein. Wie so oft ist auch hier Personalmangel als Begründung für den Erschließungsstau zu nennen. Nachlasserschließung ist und bleibt sehr zeitaufwändig. Mit zunehmender Bearbeitung, mittlerweile auch Digitalisierung, gelangen nun immer mehr spannende Dokumente an das Tageslicht, so auch im Fall des “doppelten“ Stierlin.
Ob die Kompositionen eines Kuno Stierlin heute noch von großer Bedeutung sind? Wohl eher nicht. Nach der Erschließung dieses umfangreichen Nachlasses mit immerhin 100 Archivkapseln fand sich 2013 im Handschriftenmagazin der ULB in direkter Nachbarschaft eine einzige Kapsel mit der Aufschrift „Nachlass Ludwig Stierlin“. Und es gab keinerlei Informationen zu diesem Nachlasser. Bei einer ersten Durchsicht der wenigen Dokumente wurden gleich Briefe von Gottfried Kinkel entdeckt, getoppt von einer Kurznachricht von Friedrich Engels an diesen unbekannten Ludwig Stierlin, in der auch noch Mitarbeiter Marx erwähnt wird. Der Karl Marx, dessen 200ster Geburtstag in diesem Jahr weltweit gefeiert wird. Zuerst wurde vermutet, dass es sich bei den Schriften um alte „Erbstücke“ handeln könnte, ursprünglich zum großen Nachlass Kuno Stierlin gehörend. Beide Stierlin-Nachlässe haben aber tatsächlich nur indirekt etwas miteinander zu tun. Zur Dokumentation der umfangreichen (auch genealogischen) Recherchen rund um den Fall Ludwig Stierlin und die große Familie Stierlin wurde eine eigene Akte angelegt.
Der mengenmäßig bescheidene und doch inhaltlich so interessante Nachlass Ludwig Stierlin entpuppte sich zusätzlich als der nachweislich „älteste“ schriftliche Nachlass der ULB Münster. Wobei hier nicht das Alter der Dokumente gemeint ist, sondern das Erwerbungsdatum dieses Nachlasses aus dem Jahr 1893. Dankenswerterweise lagen Papiere mit Hinweisen zur Erwerbung bei, sonst hätte das Rätsel um die genaue Herkunft nicht mehr gelöst werden können!
Die Universitätsbibliothek Münster, ein Großteil ihrer Bestände und alle Kataloge wurde gegen Ende des zweiten Weltkriegs durch Bombentreffer schwer zerstört. Die Nachlässe sollen ausgelagert gewesen sein, allerdings nicht alle. Auch hier gab es Verluste. Als nach dem Krieg das große Aufräumen begann, fand man die Dokumente des Ludwig Stierlin im August 1950 wieder, versehen mit der Aufschrift
39 Briefe und Zeitungsblätter die Bewegung 1848/49 betr., und von Flüchtlingen von 1848/49.
(Aus dem Nachlass von Ludwig Stierlin, + in Münster 1893.)
und ergänzte daraufhin
[Lt. Testament Stierlins vom 18. Nov. 1893 wurde die Univ.-Bibliothek Münster Erbin der inliegenden, von mir am 14. August 1950 wieder aufgefundenen Briefe u. Zeitungsblätter bzw. -ausschnitte. Jansen]
Der Nachlass Ludwig Stierlin ist seit 2014 katalogisiert, eine Infoseite mit biografischer Beschreibung wurde bereits veröffentlicht. Die Recherchen zur Person Stierlin förderten, neben Kinkel, Engel und Marx, weitere erstaunliche Verbindungen und Bekanntschaften zutage – auch in den USA. Die Akte Ludwig Stierlin kann für die ULB Münster allerdings noch nicht endgültig geschlossen werden, es finden sich immer wieder neue Informationsschnipsel.
So auch als Martje Saljé, Münsters Türmerin, im Februar 2018 einen Bericht über den Revolutionär Joseph Weydemeyer vom Lamberti-Kirchturm bloggte. Da wurde im ersten Untergeschoss der ULB (Dezernat Historische Bestände, Gruppe Nachlässe) erneut recherchiert und tatsächlich der Hinweis gefunden, dass Weydemeyer und Ludwig Stierlin alte „Pauliner“ waren. Im „13. Jahresbericht über das Königliche Gymnasium in Münster“ von 1831/32 werden die Quartaner Stierlin und Weydemeyer aufgrund ihrer besonderen schulischen Leistungen erwähnt.
Was den „doppelten“ Stierlin angeht, so waren der Musiker Kuno Stierlin und der Fourty-Eighter Ludwig Stierlin Großneffe und Großonkel. Es ist anzunehmen, dass der über 70jährige Ludwig bei seiner Rückkehr nach Münster den damals ca. vier Jahre alten Knirps Kuno noch kennengelernt hat.
Mittlerweile sind die Stierlin-Dokumente der ULB Münster digitalisiert und stehen nun weltweit online zur Verfügung. Wir hoffen auf Interesse der Wissenschaft. Da die Verfasser einiger Dokumente nicht ermittelt werden konnten, sind weitere Hinweise willkommen. Mein Dank für die großzügige Hilfe bei den Recherchen geht an Bernd Haunfelder und Alfred Wesselmann. Ganz besonderer Dank geht an Joseph R. (Joe) Reinhart, der mich mit Digitalisaten aus alten Zeitungen der Stadt Louisville, Kentucky unterstützt hat.
Birgit Heitfeld-Rydzik