Auszug aus einem Flyer der ULB aus dem Jahre 2063

Von Phil Wieland

Den zweiten Preis gewinnt Phil Wieland, der wohl den literarisch anspruchsvollsten, auf jeden Fall aber den phantasiereichsten Text eingereicht hat: einen fiktiven Flyer aus dem Jahre 2063, in welchen Wortströme und Wortgewitter in einem "Fluvidrom" ebenso anschaulich beschrieben werden wie eruptierendes Wissen, das die Studierenden direkt aufnehmen oder mit anderen im "Amphiacum" teilen können. Mit wenigen Sätzen schafft es Herr Wieland, eine Science-Fiction-Szenerie so bildhaft zu entwerfen, wie es gerade mal ein Stanislaw Lem oder – etwas zeitgenössischer – auch ein Dietmar Dath vermag. So wird man auf eine ULB in 50 Jahren mehr als neugierig.

Das Fluvidrom

Illustration

Im Fluvidrom wird jede Literatursuche zu einem einzigartigen Erlebnis. Das Fluvidrom wurde 2059 erbaut und besteht aus einer schier endlos großen Halle. Ab 8 Uhr morgens werden durchweg Schlagwörter in die Halle gepumpt, die über den Köpfen der Suchenden vorbeirauschen. Sobald man eines der Wörter berührt, verändert sich der Wortstrom und es fließen vermehrt Wörter aus dem gleichen Gebiet an dieser Stelle vorbei. Indem man immer weiter Wörter berührt, kann man die gesuchte Literatur immer weiter eingrenzen. Sobald sich dann irgendwann Wortinseln bilden um die die anderen Wörter herumfließen ist die Suche abgeschlossen. An der Ausgabe kann man sich dann einen Bon mit den Referenzen ausdrucken lassen. Da Wörter aus unterschiedlichen Gebieten auch unterschiedliche Farben haben, ergibt sich für den Betrachter ein teils beeindruckendes Schauspiel, wenn Suchende aus unterschiedlichen Fachrichtungen die Wortströme entsprechend ihrer Suchkriterien verändern. Wenn sich die Wortströme im Fluvidrom auf einige wenige Gebiete beschränken, kommt es sogar manchmal zu kleinen Wortgewittern, wenn Ströme aus diesen Gebieten aufeinander treffen. Eine halbe Stunde vor Schließung der ULB werden die Wörter am Ende des Raums in einen großen Trichter wieder aufgesaugt. Zu dieser Uhrzeit ist das Fluvidrom ein beliebter Treffpunkt für Studierende, die einen langen Lerntag gemütlich ausklingen lassen wollen; beim Aufsaugen werden die Wörter nämlich ziemlich heiß und sie geben ein Licht ab, das einem Sonnenuntergang gleicht.

Das Amphiacum

Das Amphiacum ermöglicht eine ganz neue Dimension der Zusammenarbeit. Es ist ein mehrstöckiger, ringförmiger Bau von enormem Durchmesser. Im Zentrum des Innenraums schwebt das Wissen. Nur durch hohen technischen Aufwand ist es möglich, das Wissen im Zentrum des Innenraums zu halten. Manchmal gibt es spontane Eruptionen auf der Außenseite des Wissens und man kann eine Formel, ein Zitat oder ein Gesetz aufblitzen sehen. Auf jedem Rang um den Innenraum herum gibt es Arbeitsplätze mit Blick ins Zentrum. Jeder Nutzer ist über die Arbeitsplätze mit dem Wissen verbunden. Sobald er an einem bestimmten Thema arbeitet, spaltet sich ein Teil des Wissens ab und es bildet sich ein Subwissen, das um das Wissen herumfliegt. Der Nutzer kann über diverse Filter einstellen, welche Subwissen er im Innenraum sehen möchte. Auf diese Weise kriegen die Nutzer mit, wenn jemand an einem gleichen Thema arbeitet und sie können dann gemeinsam das Subwissen von allen Seiten formen. Viele Hausarbeiten und Abschlussarbeiten werden mittlerweile auch im Subwissenformat abgegeben, da es nicht mehr so stark auf die Ausformulierung sondern auf die individuelle Ausformung des Wissens ankommt.

Die Virtual Tutoring Capsules

Mit den Virtual Tutoring Capsules (VTCs) wird auch jedes noch so langweilige Thema interessant und verständlich. Die VTCs ermöglichen es dem Studierenden sich Inhalte auf eine ganz neue Art und Weise erklären zu lassen. Die Kapseln erfordern mindestens drei Eingaben:
Die erste Eingabe ist die Fachliteratur, die man erklärt haben möchte, die zweite Eingabe eine Biographie über eine Person, die die Inhalte erklären soll und die dritte Eingabe ein Bildband, aus dem die Umgebung geschaffen werden soll. Beispielsweise kann man als Fachliteratur "Kritik der reinen Vernunft" von Immanuel Kant, als Biographie "Kleopatra: Ein Leben" von Stacy Schiff und als Umgebung "Die schönsten Gärten und Parks in Paris und in der Ile de France" von Frank Maier-Solgk angeben. Man drückt dann den Startknopf, begibt sich in die Kapsel und sobald der Deckel geschlossen ist läuft man gemeinsam mit einer bezaubernden Kleopatra durch eine virtuelle Pariser Parkanlage und lässt sich Kants Erkenntnistheorie erklären. Zur Einführung der VTCs hatte man Einsteins Relativitätstheorie und eine Biografie über die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel gewählt. Aufgrund eines Software-Fehlers konnte für die ersten drei Monate keine andere Biografie mehr eingegeben werden und Angela Merkel erklärte alles von der Thermodynamik bis hin zur Spieltheorie. Frau Merkel lief also ständig auf Re-peat und die Studierenden nannten die Kapsel irgendwann "Re-merkel". Dieser Spitzname hat sich bis heute gehalten und wenn jemand heutzutage die Kapseln nutzen will hört man ihn nicht allzu selten sagen "Ich geh nochmal 'ne Runde remerkeln!".

zu Vision 1
zu Vision 3

Phil Wieland

Phil Wieland studierte Psychologie in Saarbrücken und Münster und schrieb 2009 seine Diplomarbeit mit dem Titel "Perceptual filling-in of artificial scotomas in optic flow fields". Er promoviert derzeit am Institut für Psychologie und beschäftigt sich mit der Wahrnehmung in immersiven virtuellen Welten. Schon seit jungen Jahren interessiert er sich für alles, was mit Science Fiction zu tun hat, und ist ein großer Fan von Philip K. Dick.