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wissen.leben.lesen › Jürgen Gunia

In Anlehnung an die Frage „Lek­türe muss sein! Welche?“ aus der Inter­viewrei­he „3 ½ Fra­gen an …“ aus der ZEIT stellen in dieser Rei­he Ange­hörige der Uni Mün­ster Büch­er oder Artikel vor, die für ihre Lehre oder Forschung wichtig sind, die sie im Studi­um bee­in­flusst haben oder die sie aus anderen Grün­den für empfehlenswert hal­ten – vielle­icht auch als Feier­abend- oder Urlaub­slek­türe. 🙂


Buch-Cover "Immunitas" (https://www.diaphanes.de/titel/immunitas-38)

Rober­to Espos­i­to
Immu­ni­tas. Schutz und Nega­tion des Lebens
aus dem Ital­ienis­chen von Sabine Schulz
Berlin: diaphanes 2004, neue Aus­gabe 2021
die 2021er-Aus­gabe ist in der Bib­lio­thek für Sozial­wis­senschaften ver­füg­bar
die 2004er-Aus­gabe ist in den Bib­lio­theken für Ger­man­is­tik und für Sozial­wis­senschaften ver­füg­bar

Rober­to Espos­i­tos Mono­gra­phie ist bere­its 2004 erschienen und den­noch bran­dak­tuell. Der in Neapel Philoso­phie lehrende Espos­i­to nimmt darin schlicht und ein­fach die Rhetorik von Immu­nität und Ansteck­ung ernst, die sich in den unter­schiedlich­sten Diszi­plinen und gesellschaftlichen Bere­ichen find­et, z.B. im Poli­tis­chen oder Mil­itärischen – und natür­lich in der Biolo­gie und in der Medi­zin. Er argu­men­tiert zunächst mit struk­turellen Analo­gien, um dann Par­al­le­len aufzuzeigen und diese schließlich in eine The­o­riefig­ur zu über­führen, die von großer kul­tur­diag­nos­tis­ch­er Evi­denz ist: „Schutz und Nega­tion des Lebens“ bedeutet Auss­chluss durch Ein­schluss des Bedrohlichen und ist als solch­es nicht wegzu­denken von der Bil­dung eines funk­tion­ieren­den Kollek­tivs. Kann man sich mit Meth­ode und Argu­men­ta­tion anfre­un­den, bietet Espos­i­to eine Fülle an Erken­nt­nis­sen. Kein Buch über Coro­na also, son­dern eine aufs Grund­sät­zliche zie­lende philosophis­che Reflex­ion. Und ger­ade deshalb das Buch der Stunde.

Buch-Cover "Der Lüster" (https://www.schoeffling.de/buecher/clarice-lispector/der-l%C3%BCster)

Clarice Lispec­tor
Der Lüster. Roman
aus dem Por­tugiesis­chen und mit einem Nach­wort von Luis Ruby
Frank­furt am Main: Schöf­fling 2013
Ein­trag im Per­len­tauch­er

Der zweite, erst­mals 1946 erschienene Roman der „brasil­ian­is­chen Vir­ginia Woolf“ erzählt keine Geschichte im herkömm­lichen Sinne. Mit seinem am Stream of Con­scious­ness ori­en­tierten Erzäh­lver­fahren erfordert er eine ger­adezu ver­langsamte Lek­türe. Der Über­set­zer Luis Ruby hebt in seinem Nach­wort her­vor, dass Lispec­tor selb­st emp­fohlen habe, den Text langsam zu lesen, d.h. nur „drei oder vier Seit­en am Stück“. Eine Empfehlung, der man unbe­d­ingt fol­gen sollte, weil man so die sprach­lichen Nuan­cen und Details der Wahrnehmungs- und Gedanken­pro­tokolle am besten genießen kann. Etwa die eso­ter­isch anmu­ten­den Reflex­io­nen über die toten, in Wahrheit aber leben­den Dinge, oder über­haupt die über Leben und Tod. Oder Sätze wie diese: „Sie wirk­te nicht wie eine Frau, son­dern so, als ahmte sie Frauen nach, sorgsam und unruhig.“ Mein Favorit unter den Sätzen jedoch ist der allererste: „Ihr ganzes Leben lang sollte sie fließend sein.“

Dr. Jür­gen Gunia
Stu­di­en­rat im Hochschul­dienst am Ger­man­is­tis­ches Insti­tut
Abt. Neuere deutsche Lit­er­atur

Blog zur Work­shop-Rei­he „Ger­man­is­tik im Beruf“

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