In Anlehnung an die Frage „Lektüre muss sein! Welche?“ aus der Interviewreihe „3 ½ Fragen an …“ aus der ZEIT stellen in dieser Reihe Angehörige der Uni Münster Bücher oder Artikel vor, die für ihre Lehre oder Forschung wichtig sind, die sie im Studium beeinflusst haben oder die sie aus anderen Gründen für empfehlenswert halten – vielleicht auch als Feierabend- oder Urlaubslektüre. 🙂
Roberto Esposito
Immunitas. Schutz und Negation des Lebens
aus dem Italienischen von Sabine Schulz
Berlin: diaphanes 2004, neue Ausgabe 2021
› die 2021er-Ausgabe ist in der Bibliothek für Sozialwissenschaften verfügbar
› die 2004er-Ausgabe ist in den Bibliotheken für Germanistik und für Sozialwissenschaften verfügbar
Roberto Espositos Monographie ist bereits 2004 erschienen und dennoch brandaktuell. Der in Neapel Philosophie lehrende Esposito nimmt darin schlicht und einfach die Rhetorik von Immunität und Ansteckung ernst, die sich in den unterschiedlichsten Disziplinen und gesellschaftlichen Bereichen findet, z.B. im Politischen oder Militärischen – und natürlich in der Biologie und in der Medizin. Er argumentiert zunächst mit strukturellen Analogien, um dann Parallelen aufzuzeigen und diese schließlich in eine Theoriefigur zu überführen, die von großer kulturdiagnostischer Evidenz ist: „Schutz und Negation des Lebens“ bedeutet Ausschluss durch Einschluss des Bedrohlichen und ist als solches nicht wegzudenken von der Bildung eines funktionierenden Kollektivs. Kann man sich mit Methode und Argumentation anfreunden, bietet Esposito eine Fülle an Erkenntnissen. Kein Buch über Corona also, sondern eine aufs Grundsätzliche zielende philosophische Reflexion. Und gerade deshalb das Buch der Stunde.
Clarice Lispector
Der Lüster. Roman
aus dem Portugiesischen und mit einem Nachwort von Luis Ruby
Frankfurt am Main: Schöffling 2013
Eintrag im Perlentaucher
Der zweite, erstmals 1946 erschienene Roman der „brasilianischen Virginia Woolf“ erzählt keine Geschichte im herkömmlichen Sinne. Mit seinem am Stream of Consciousness orientierten Erzählverfahren erfordert er eine geradezu verlangsamte Lektüre. Der Übersetzer Luis Ruby hebt in seinem Nachwort hervor, dass Lispector selbst empfohlen habe, den Text langsam zu lesen, d.h. nur „drei oder vier Seiten am Stück“. Eine Empfehlung, der man unbedingt folgen sollte, weil man so die sprachlichen Nuancen und Details der Wahrnehmungs- und Gedankenprotokolle am besten genießen kann. Etwa die esoterisch anmutenden Reflexionen über die toten, in Wahrheit aber lebenden Dinge, oder überhaupt die über Leben und Tod. Oder Sätze wie diese: „Sie wirkte nicht wie eine Frau, sondern so, als ahmte sie Frauen nach, sorgsam und unruhig.“ Mein Favorit unter den Sätzen jedoch ist der allererste: „Ihr ganzes Leben lang sollte sie fließend sein.“
Dr. Jürgen Gunia
Studienrat im Hochschuldienst am Germanistisches Institut
Abt. Neuere deutsche Literatur
Blog zur Workshop-Reihe „Germanistik im Beruf“