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SWR 2 Wissen: „Andrej Sacharow – Vom Bombenbauer zum Menschenrechtler“

Logo SWR2 bei Wikimedia CommonsErst entwick­elte er die sow­jetis­che Wasser­stoff­bombe, dann wurde er zu einem der berühmtesten Men­schen­rechtler in der Sow­je­tu­nion.
Am 21. Mai wäre Andrej Sacharows 100. Geburt­stag.

Andrej Sacharow: einst weltberühmter Menschenrechtler

Andrej Sacharows Leben und Wirken ist ein ein­drück­lich­es Zeug­nis für die Art, wie sich ein Einzel­ner wan­deln kann. Aber auch ein Beleg dafür, wie schw­er es ist, sich in ein­er Dik­tatur zu behaupten. Doch Biografien, Artikel über Andrej Sacharow oder gar Schul­ma­te­r­i­al für die poli­tis­che Bil­dung anhand seines Beispiels sucht man in Deutsch­land meist vergebens. Der einst welt­berühmte Men­schen­rechtler Andrej Sacharow ist in Deutsch­land prak­tisch vergessen.

Sowjetische Dissidenten lösten in Westdeutschland Unbehagen aus

Die Poli­tik­wis­senschaft­lerin Ulrike Ack­er­mann schreibt und forscht seit über drei Jahrzehn­ten zu Frei­heit­skämpfern wie Andrej Sacharow. In gewiss­er Weise wurde auch Sacharow Opfer des Unbe­ha­gens mit sow­jetis­chen Dis­si­den­ten, das in West­deutsch­land sehr aus­geprägt war, meint sie. Ganz anders als in Frankre­ich. In Paris war das Anliegen der Dis­si­den­ten präsen­ter und es wurde bre­it debat­tiert, so Ack­er­mann.

Genialer Physiker: Sacharow soll im Kalten Krieg Nuklearwaffe entwickeln

Geboren wird Andrej Sacharow am 21. Mai 1921 in Moskau. An der Uni­ver­sität fällt Sacharow schnell als genialer Physik­er auf. Daraufhin leit­et 1950 der damals 29-Jährige eine ganze Forschungs­gruppe in ein­er geheimen Stadt in der Nähe von Moskau. Aus Geheim­di­en­stquellen wis­sen die sow­jetis­chen Physik­er nur, dass die Amerikan­er an der Wasser­stoff­bombe arbeit­en. Die Sow­je­tu­nion ist vom Krieg gebeutelt, die Parteiführung in den let­zten Leben­s­jahren Stal­ins unberechen­bar. Unter diesen Umstän­den soll Andrej Sacharow eine wis­senschaftliche und tech­nis­che Spitzen­leis­tung erbrin­gen: Die Entwick­lung ein­er trans­portablen, ther­monuk­learen Waffe.

Erste Wasserstoffbombe ist 100 Mal stärker als die Hiroshima-Atombombe

Am 22. Novem­ber 1955 wirft ein Bomber über der Steppe von Kasach­stan den Pro­to­typ der ersten Wasser­stoff­bombe ab. In 1.500 Metern Höhe zün­det sie wie geplant. Sie ist über 100 Mal stärk­er als die Hiroshi­ma-Atom­bombe. Und sie ist das Werk von Andrej Sacharow.

Sicherheitsgründe: Kaum jemand kennt Sacharows Gesicht

Wasser­stoff­bomben mit unge­heur­er Sprengkraft wer­den zur mil­itärischen Grund­lage für die Super­ma­cht Sow­je­tu­nion. In den 1980er-Jahren wird die Sow­je­tu­nion über 40.000 solch­er Sprengköpfe haben – und damit den eben­falls aufrüs­ten­den USA die Stirn bieten. Dieses nuk­leare Imperi­um hat Andrej Sacharow mit geschaf­fen. In der Sow­je­tu­nion ist er ein Held – allerd­ings aus Sicher­heits­grün­den nur ins­ge­heim. Nie­mand ken­nt sein Gesicht, kaum jemand seinen Namen. Mit 32 Jahren wird Sacharow Mit­glied der Akademie der Wis­senschaften, Ausze­ich­nun­gen und Priv­i­legien fol­gen.

Doch Ende der 1960er-Jahre begin­nt Andrej Sacharow zu zweifeln. Es ist der 1. Mai 1968, kurz vor seinem 47. Geburt­stag. Die sow­jetis­che Führung demon­stri­ert zur tra­di­tionellen Mai-Parade Geschlossen­heit und Härte nach innen und mil­itärische Macht nach außen.

Andrej Sacharow beein­druck­en die Sol­dat­en, die Panz­er und Waf­fen nicht. Er sieht die Unfrei­heit und Willkür im Land, die Auswirkun­gen der poli­tis­chen Unter­drück­ung und der Zen­sur. Men­schen­rechte gel­ten nicht, es gibt zahlre­iche poli­tis­che Gefan­gene.

Verrat: Schreibkraft übergibt dem KGB heimliche Denkschrift Sacharows

Meist abends schreibt Sacharow heim­lich an ein­er Denkschrift „Gedanken über Fortschritt, friedliche Koex­is­tenz und geistige Frei­heit“. Es ist ein Appell der Ver­nun­ft. Sacharows Text enthält klare Forderun­gen an die Sow­jet­führung: Kriegs­ge­fahr ban­nen, friedliche Koex­is­tenz ver­tiefen, Umweltschutz, poli­tis­che Gefan­gene freilassen.
Aber beson­ders geht es ihm um den freien Aus­tausch von Infor­ma­tio­nen.

Im April 1968 gibt er das Manuskript ein­er Schreibkraft, die es sofort an den Geheim­di­enst KGB weit­er­leit­et und ihn ver­rät.

New York Times publiziert Sacharows Text

Im Juli 1968 allerd­ings erscheint Sacharows Text in der New York Times – unter seinem richti­gen Namen Andrej D. Sacharow, Physik­er, Akademiemit­glied. Sacharows Analy­sen über Frieden, die Bedro­hun­gen der Welt durch ther­monuk­leare Kriege, Hunger und dik­ta­torische Regime machen ihn sofort welt­bekan­nt.

Sacharow bricht 1973 öffentlich mit der kommunistischen Idee

Sacharow erk­lärt 1973 seinen Bruch mit der kom­mu­nis­tis­chen Idee. Öffentlich. In Inter­views mit west­lichen Medi­en. Über west­liche Radiosender gelan­gen seine Aus­sagen in die Sow­je­tu­nion zurück. Gestört zwar. Aber hör­bar. Sacharow macht keine Kom­pro­misse mehr. Auf die Frage, worin er den größten Man­gel in der heuti­gen sow­jetis­chen Gesellschaft sieht, antwortet Andrej Sacharow: „Sicher­lich in der Unfrei­heit. In der Unfrei­heit, in der Bürokratisierung der öffentlichen Ver­wal­tung, darin, dass dieses Regierungssys­tem äußerst unvernün­ftig und schreck­lich ego­is­tisch ist. Es ist eine ego­is­tis­che Klassen­ver­wal­tung, die im Wesentlichen nur ein Ziel ver­fol­gt: die beste­hende Ord­nung aufrechtzuer­hal­ten und ungeachtet der misslichen Ver­hält­nisse den Schein des Wohl­standes nach außen hin zu wahren.“ (Andrej Sacharow, 1973)

Friedensnobelpreis und Verbannung nach Gorki

Die Entwick­lung geht Schlag auf Schlag: 1975 wird Sacharow der Frieden­sno­bel­preis zuerkan­nt. 1980 kri­tisiert er den sow­jetis­chen Ein­marsch in Afghanistan. Die Folge: Ver­ban­nung nach Gor­ki. Erst 1986 darf er zurück­kehren.

Und nun wollen ihn die Großen dieser Welt tre­f­fen: Präsi­den­ten, der Papst. Deutsche Poli­tik­erin­nen wie die Grüne Petra Kel­ly und Willy Brandt sprechen mit ihm in Moskau. Er set­zt sich für Abrüs­tung und Umweltschutz ein, reist nach Frankre­ich, Ital­ien, Japan und 1988 in die USA.

Sacharow: Verfassungsentwurf für Sowjetunion ohne Kommunistische Partei

Am 9. Juni 1989 tritt Andrej Sacharow im Volks­deputiertenkongress ans Red­ner­pult und sorgt für Tumulte im Saal. Beifall auf der einen Seite und wütende Rufe und Pfiffe von ein­er Vielzahl der Anwe­senden. Andrej Sacharow fordert freie Wahlen und die Abschaf­fung des Macht­monopols der Kom­mu­nis­tis­chen Partei, die Artikel 6 der Sow­jetver­fas­sung fes­tlegt. Das hat­te zuvor nie­mand öffentlich gefordert.

Der fol­gende, öffentliche Schlagab­tausch mit Gor­batschow geht als Nachricht um die Welt. Gor­batschow will Sacharows Rede nicht dulden. Später wird Gor­batschow sich kor­rigieren und sagen, Sacharow ging im Juni 1989 zwar in die richtige Rich­tung: Aber es war zu früh.

Während ein­er Reise in die USA im Hochsom­mer 1989 schreibt Sacharow sein let­ztes Werk: einen Ver­fas­sungsen­twurf für eine Sow­je­tu­nion ohne Kom­mu­nis­tis­che Partei an der Macht. Der Ver­fas­sungsen­twurf ist Sacharows Ver­mächt­nis, auch wenn er poli­tisch unbeachtet bleibt.

Wiederentdecken lohnt sich

Am 14. Dezem­ber 1989 stirbt Andrej Sacharow in sein­er Woh­nung an Herzver­sagen. Wenige Tage später kom­men viele Tausende zu sein­er Beerdi­gung. Sie rufen „Prosti“ – verzeih uns, wir haben Dich zu spät ver­standen.

Vielle­icht ist heute, da die poli­tis­chen Span­nun­gen zwis­chen Rus­s­land und Europa spür­bar zunehmen, ein geeigneter Zeit­punkt, um den Men­schen­rechtler Andrej Sacharow wiederzuent­deck­en.

(SWR, Michael Hänel)

Sie kön­nen die Sendung aus dem Jahr 2021, die zulet­zt am 9.10.2023 in der Rei­he „SWR2 Wis­sen“ lief, über die Seite des SWR nach­hören oder als Audio­datei herun­ter­laden.

Vom gle­ichen Autor gibt es auf dem Por­tal „Zukun­ft braucht Erin­nerung“ ein aktuelles Porträt zu Sacharow mit vie­len weit­er­führen­den Links.

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