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WDR ZeitZeichen zur Uraufführung der „Möwe“ von Anton Tschechow

Logo WDR bei Wikimedia Commons„Heute gehört „Die Möwe“ von Anton Tsche­chow zu den meist­ge­spiel­ten Stück­en an deutschen The­atern. Das ist nicht selb­stver­ständlich. Denn der Höhen­flug begin­nt mit einem Flop.
Im Okto­ber 1895 schreibt der Schrift­steller und Arzt Anton Tsche­chow ein neues Stück: „Eine Komödie, vier Akte, eine Land­schaft (Blick auf den See); viele Gespräche über die Lit­er­atur, wenig Hand­lung, ein Pud Liebe.“ Ein beson­deres Gewicht hat dabei die Liebe: Die rus­sis­che Maßein­heit Pud entspricht gut 16 Kilo­gramm. Es ist eine sub­tile Studie über unglück­liche Men­schen, die in einem Land­haus zusam­men­tr­e­f­fen.
Die Fig­uren sehnen sich nach dem, was sie nicht haben. Die The­a­ter­di­va Iri­na Arkad­i­na gäbe alles dafür, wieder jung zu sein. Die Nach­barstochter Nina hinge­gen wün­scht sich, Schaus­pielerin zu wer­den. Iri­nas Brud­er Sorin wäre gern ein erfol­gre­ich­er Schrift­steller. Iri­nas Geliebter wiederum – der Schrift­steller Trig­orin – fühlt sich vom Erfolg erdrückt und geht lieber angeln.

„Bosheit“ und „Hass“
„Man ist ein gefan­ge­nes Tier!“, lässt Tsche­chow den Schrift­steller Trig­orin aus­rufen. Die Frei­heit ein­er Möwe hinge­gen erscheint der Fig­ur als Glück. Die Urauf­führung des sym­bol­haften Stück­es am 17. Okto­ber 1896 gerät allerd­ings zum Desaster.
Für die Probe sind ger­ade ein­mal drei Tage ange­set­zt wor­den. Das Ensem­ble agiert, wie Tsche­chow find­et, „wider­wär­tig und dumm“. Das Pub­likum reagiert mit Unmut. „Meine ‚Möwe‘ hat­te in Peters­burg, bei der ersten Vorstel­lung, einen Riesen­mis­ser­folg. Das The­ater atmete Bosheit, die Luft war explo­siv vor Hass.“

Poten­zial doch noch erkan­nt
Der Tumult ist so groß, dass Tsche­chows Schwest­er fürchtet, ihr Brud­er kön­nte sich umbrin­gen. Doch er erholt sich rasch: „Zu Hause habe ich Riz­i­nusöl genom­men, mich in kaltem Wass­er gewaschen — und jet­zt kön­nte ich sog­ar ein neues Stück schreiben.“
Schon bald nach der Urauf­führung erken­nt der The­ater-Reformer Kon­stan­tin Stanis­laws­ki das Poten­zial der „Möwe“. Mit ihr eröffnet er 1898 sein neuge­grün­detes Moskauer Kün­stlerthe­ater. Weil Tsche­chow inzwis­chen an Tuberku­lose erkrankt ist, kann er bei der Pre­miere nicht dabei sein. Er hält sich im war­men Jal­ta auf.

Einen Spiegel vorhal­ten
Dies­mal bricht nach der Auf­führung Jubel aus. „Der Saal hallte wieder von aufgeregten Stim­men, die forderten, sofort ein Telegramm zu Tsche­chow in Jal­ta zu schick­en. Die ‚Möwe‘ war reha­bil­i­tiert“, erin­nert sich Schaus­pielerin Olga Knip­per.
Tsche­chow wird als Dra­matik­er welt­berühmt. Trotz­dem find­et er Stanis­lawskis Insze­nierung zu rührselig: „Ich wollte etwas ganz anderes. Ich wollte ein­fach und ehrlich sagen: ‚Schaut euch an, seht doch, wie schlecht und lang­weilig ihr euer Leben führt!‘ “ Er selb­st ist nicht apathisch: Als Lan­darzt behan­delt er kosten­los Bauern, baut Schulen, ein Kranken­haus und eine Feuer­wehrsta­tion.“
(WDR, Chris­tiane Kop­ka, Ronald Feisel)

Sie kön­nen die Sendung, die am 17.10.2021 in der Rei­he „ZeitZe­ichen“ lief, über die Seite des WDR nach­hören oder als Audio­datei herun­ter­laden.

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