Armer Heinrich, reicher Heinrich — Deutscher Heinrich: Die literarische Karriere eines Namens im neunzehnten Jahrhundert
Der Eigenname ist als sprachliches Phänomen Gegenstand vielfältiger wissenschaftlicher Betrachtung. In der Literatur erfüllt er seine Funktion unter anderem durch sein assoziatives Potenzial, das im Einzelwerk herauszuarbeiten eine literaturwissenschaftliche Grunddisziplin darstellt. Nun wird die deutsche Literatur des neunzehnten Jahrhunderts von einem einzelnen Namen in auffälliger Weise dominiert, nicht nur ob seiner Häufigkeit, sondern vor allem durch die prominente Platzierung in den großen und größten Werken dieser Zeit. Heinrich von Ofterdingen steht neben Heinrich Faust, der grüne Heinrich neben der Königlichen Hoheit Klaus Heinrich. Dabei ist der Eigenname per definitionem zu keiner Zeit ein unbeschriebenes Blatt. Rebecca Richter zeigt, dass der deutsche Herrschername schlechthin durch das neunzehnte Jahrhundert zum deutschen Dichtermythos erweitert wird, dem Künstler-Ich, das in einer sich modernisierenden und ökonomisierenden Welt entweder flüssig wird, oder sich verflüchtigt: Die Anlage zu beidem bringt Heinrich bereits im Namen mit.
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Zwischen Gesellschaftsroman und Pornografie: Der Sittenroman im Leihbuch nach 1945
Anders als der pornografische Roman beinhaltet der Sittenroman in der Regel keine reine Aufzählung sexueller oder gar abartiger Handlungen. Er ist der erotisch und sexuell angedeutete Teil der Sparte „Gesellschaftsromane“, in dem es mehr um Anspielungen und Ausschmückungen als reelle Schilderung geht. Dass es „Ausreißer“ gibt, etwa in Richtung Sadismus und Voyeurismus (Auspeitschungen), muss ausdrücklich betont werden. Darüber hinaus allerdings hat der Sittenroman im Vergleich zur Pornografie eine – wenn man das so sagen will – soziale Zielrichtung: Er beinhaltet distanziert-kritische Betrachtung der bestehenden Gesellschaft, ihrer festgefahrenen (Standes-) Regeln und ihrer (oft kleinbürgerlich-kleingeistigen) Tabus. Es war wohl genau jene Engstirnigkeit des bürgerlichen Lagers, die manchen Autoren veranlasste, via „Sittenroman“ seine Kritik zu artikulieren.
Schauplätze der Handlung sind Bordelle und Luxusappartements mit Edelprostituierten, aber auch der Straßenstrich und auch die aus Not geborene Hurerei. Arm und Reich als Klischee – Ausbeutung der Unterschicht durch die (egoistischen, unsozial denkenden) Reichen, aber auch durch skrupellose Zuhälter bzw. „Madames“, die derselben unterprivilegierten Schicht entstammen wie die ausgebeuteten Mädchen.
Die Handlung spielt wohl auch in Deutschland, wird aber mit Vorliebe ins (exotische) Ausland verlegt; oft genug damit verbunden sind Abenteuer in fremden Ländern oder auch Kriminalfälle. Besonders reizvoll scheint es für die Autoren gewesen zu sein, lange Sequenzen in Bordellen oder gehobenen Etablissements spielen zu lassen – so liest sich das manches Mal wie eine Philippika für die Prostitution. In der Anpreisung der Romane durch die Verlage spielen Frankreich und vor allem die französische Hauptstadt Paris eine große Rolle. Das französische „savoir-vivre“ als Erklärung für mangelnde Sittlichkeit und Unmoral – die damaligen Vorbehalte und Ressentiments gegenüber unseren Nachbarn jenseits des Rheins, werden in den Romanen immer wieder deutlich.
Ein Aspekt, der in vielen Sittenromanen eine wesentliche Rolle spielt, muss hier deutlich hervorgehoben werden: Die Kritik an der „normalen“ bürgerlichen und kleinbürgerlichen sowie der sogenannten gehobenen Gesellschaft ist vielen Autoren (in der Regel sind es männliche Verfasser) ein wichtiges Anliegen – das wird fast in jedem Roman klar erkenntlich angesprochen. Das Verlogene und Moralinsaure, Scheinheiligkeit und Geheimnistuerei bei gleichzeitigem Eifer, selbst an der lukrativen Szene mitzuverdienen, beziehungsweise seiner (kostenlosen) Lust, etwa als Bürgermeister und sonstiges Mitglied der gehobenen Gesellschaft, frönen zu können: dagegen wird angeschrieben.
Und, das wird weiter unten deutlich werden, genau das sind wohl oft genau die Stellen in den Sittenromanen, die den eigentlichen Anlass zur Indizierung geben. Denn der Herr Regierungsrat, der in den Puff geht, oder der Richter, der sich von der Edelprostituierten verwöhnen lässt, aber auch der wohlhabende Bürger, der seine Tochter in eine ebenso wohlhabende Familie weitergibt, also weiterverheiratet – das von Autorenseite aufgedeckt und gar angeprangert zu sehen – undenkbar! Denn das wurde – wie es scheint – empfunden als direkter Angriff auf die Herren (meistens) und Damen Tugendwächter an den zahlreichen Gerichten und in der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften in Bad Godesberg.
Ziel dieser Darstellung ist der Versuch einer ersten Bestandsaufnahme. Während sich mit der Kriminal- und Westernliteratur im Leihbuch zumindest Sammlerkreise intensiver beschäftigt haben, insbesondere mit Vita und Werk einzelner Autoren wie C. V. Rock oder G. F. Unger, ist das Genre des Sittenromans noch so gut wie unbearbeitet geblieben. Zwar werden für einzelne Titel, deren bibliografische Daten und gegebenenfalls auch Inhalte als Geheimtipp unter Sammlern ausgetauscht werden, Phantasiepreise bezahlt, doch fehlt es bis dato sogar an einer einigermaßen komplett zu nennenden Bibliografie.
Das soll hier nachgeholt werden und zugleich durch intensives Zitieren aufmerksam gemacht werden auf den einen oder anderen Titel, der einer intensiveren Aufmerksamkeit wert sein könnte. Ein besonderes Augenmerk gilt den von Gerichten und der Bundesprüfstelle für jugendgefährdenden Schriften als jugendgefährdend beurteilten Titeln, sind es doch oft genug – wenn auch nicht immer – die interessanter gestalteten Darstellungen.
Eine komplette Erfassung der dem Sittenroman zuzurechnenden Titel ist angestrebt, kann jedoch nicht garantiert werden, da immer wieder einmal Romane (bei Antiquaren, auf Trödelmärkten oder gar aus Privatbesitz wie z. B. Nachlässen von Autoren oder ehemaligen Verlagsmitarbeitern) auftauchen, die auch in versierten Sammlerkreisen für Überraschungen sorgen.
Die hier vorgelegte Darstellung des Sittenromans im Leihbuch ist keine soziologische Aufarbeitung des Themas, sondern lediglich ein Versuch, das Themenfeld möglichst genau abzuklopfen. Um den Eindruck beim Leser der Monografie eindringlich zu gestalten, wird auf das Mittel des intensiven Zitierens zurückgegriffen. „Stellenpicken“, wie dies jahre- oder gar jahrzehntelang durch die amtlich bestellten Jugendschützer praktiziert wurde, würde nie zu einem Gesamteindruck führen. Daher sollen vergleichsweise längere Auszüge aus den einzelnen Romanen die Möglichkeit schaffen, Eindrücke über die gesellschaftliche bzw. gesellschaftskritische Tendenz zu gewinnen. Denn eins – das sei vorweg gesagt – scheint mir den Jugendschützern an den Gerichten wie in der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften vorrangig als eine Begründung für festgestellte Jugendgefährdung am Herzen gelegen zu haben: Kritik am (gut-)bürgerlichen Scheinidyll, wie es die Mainstream-Literatur insbesondere in Form des allgemeinen Unterhaltungsschrifttums wie zum Beispiel als Fortsetzungsromane in Illustrierten, aber auch als sogenannte E‑Literatur den Leserinnen und Lesern anbot.
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