„1966 erhielt sie mit 75 Jahren den Literatur-Nobelpreis. Die Schriftstellerin Nelly Sachs wird als „die Stimme Israels“ gefeiert. Ihr Lebensweg ist geprägt von der Flucht aus dem von den Nazis regierten Deutschland.
In den letzten Jahren ihres Lebens wird sie als die „Stimme Israels“ gefeiert. Für Nelly Sachs ist der Weg dahin weit. Erst mit ihrer Flucht aus Berlin 1940 vollzieht sich die Verwandlung. Da ist sie fast 50 Jahre alt. Der Durchbruch zu einer neuen Sprache, ein Sich-Hingeben, wie sie es selber nennt, an das jüdische Leid. Sie findet Worte für das Schwer- zu-Fassende, für das Grauen des Holocaust.
Nelly Sachs wird am 10. Dezember 1891 in eine assimilierte deutsch-jüdische Familie geboren. Sie ist das einzige Kind. Der Vater als kunstsinniger Fabrikant verkehrt in privilegierten Berliner Gesellschaftskreisen. Großzügig, dabei autoritär und unnahbar ist er ein selbstgefälliger Patriarch, ganz im Stil der Zeit. Die Tochter verehrt ihn.
Das Entdecken des Schreibens
Schüchtern und in sich gekehrt entdeckt sie früh das Schreiben als eine Möglichkeit, sich mitzuteilen. „Die kleine Kinderhölle der Einsamkeit, mit den schrecklichen Vorbereitungen auf den Todesbiss des Lebens“, schreibt Nelly Sachs später.
In einem Kurort, im Siebengebirge, den sie zusammen mit den Eltern besucht, begegnet die 17-Jährige einem Mann, in den sie sich heftig verliebt. Ein Glück, das in ein Unglück umschlägt, von ihr als Katastrophe empfunden. Sie wird schwer krank. Die Eltern geben sie für zwei Jahre in die Obhut eines befreundeten Psychiaters. Der Arzt sieht, dass sie schreibt und bestätigt sie darin. Durch sein Interesse weckt er ihre Lebensgeister. Ganz langsam stabilisiert sich ihr Zustand.
Sie lebt zurückgezogen
Nelly Sachs setzt ihr Tochter-Leben bei den Eltern fort. Eine schöne junge Frau mit dunklem Haar, zierlich, mit einem stillen Lächeln. Sie lebt zurückgezogen, nur mit ein paar Freundinnen hat sie Kontakt. Das Schreiben ist ihr inzwischen zur zweiten Natur geworden. Es entstehen Gedichte, Legenden, Erzählungen. Als der Vater erkrankt, ist sie es, die ihn pflegt. Er stirbt 1930.
Einige Zeit später, inzwischen ist Hitler an der Macht, begegnet Nelly Sachs abermals einem Mann, der ihre Liebe weckt. Ob es womöglich derselbe ist, den sie als 17-Jährige traf, bleibt ihr Geheimnis. Sie spricht vom Wiederaufbrechen einer alten Wunde. Vor ihren Augen, wie sie später berichtet, wird er, der sich dem Widerstand angeschlossen hatte, gefoltert und ermordet.
Flucht nach Schweden
Allein für ihre Mutter will sie weiterleben, unter wachsender Bedrohung. Die Nationalsozialisten sind dabei, mit immer schärferen Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung vorzugehen. Im Mai 1940 gelingt Nelly Sachs zusammen mit ihrer Mutter die Flucht nach Schweden.
Bekanntgabe des Nobelpreises
Beim Wenigen bleibt es bis zu ihrem Tod im Mai 1970: Eine winzige Wohnung in Stockholm, ein rundes Tischchen, auf dem ihre Schreibmaschine steht. Sie übersetzt zeitgenössische schwedische Dichter ins Deutsche, befreundet sich mit ihnen. Tagsüber kümmert sich Nelly Sachs um ihre pflegebedürftige Mutter, nachts schreibt sie. Als die Mutter 1950 stirbt, ist es eine Befreiung und ein Schock zugleich. Die Einsamkeit ist wieder da und die Angst vor Verfolgung.
Dann der kometenhafte Ruhm in den 1960er Jahren: Veröffentlichungen und Preise, gipfelnd im Literatur-Nobelpreis 1966. Der Erfolg kann sie vor den Schreckensbildern der Angst, die immer bedrängender in ihr aufsteigen, nicht schützen.“
(WDR, Monika Buschey, Gesa Rünker)
Sie können die Sendung, die Ende 2021 in der Reihe „ZeitZeichen“ lief, über die Seite des WDR nachhören oder als Audiodatei herunterladen.