WDR 3 Kulturfeature: „Pier Paolo Pasolini, der vom Leben verurteilte Dichter
„Künstler, Lehrer, Katholik: Pier Paolo Pasolini war alles zugleich – mit einer Leidenschaft, die seine Zeit überforderte. Eine Hommage zu seinem 100. Geburtstag.“
(WDR, Wolf Wondratschek)
Sie können die Sendung, die am 5.3.2022 in der Reihe „ZeitZeichen“ lief, über die Seite des WDR nachhören oder als Audiodatei herunterladen.
WDR ZeitZeichen zu Pier Paolo Pasolini
„Dichter und Filmemacher, Marxist, bekennender Schwuler und kritischer Katholik: Pier Paolo Pasolini ist alles zugleich – mit einer Leidenschaft, die seine Zeit überfordert. Unter bis heute nicht endgültig geklärten Umständen findet der bedeutende Vertreter des italienischen Neorealismus ein gewaltsames Ende.
Am Abend vor seinem grausamen Tod gibt Italiens umstrittenster Intellektueller sein letztes Interview. „Für das Leben, das ich führe, bezahle ich einen Preis“, bekennt Pier Paolo Pasolini darin. Sechs Stunden später, in den Morgenstunden des 2. November 1975 findet man seinen völlig zerschmetterter Körper im Küstenvorort Ostia, 30 Kilometer von Rom entfernt, am Rande einer Barackensiedlung.
Als Täter verhaftet die Polizei den jungen Stricher Pino Pelosi, den der offen schwul lebende Pasolini in der Nacht in seinem Alfa Romeo mitgenommen haben soll. Der 17-Jährige gesteht, den bekannten Regisseur niedergeschlagen und mit dessen Auto überrollt zu haben. 1979 wird Pelosi wegen Mordes zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt.
Dissident zwischen allen Stühlen
Pier Paolo Pasolini ist zeitlebens ein Seismograf der italienischen Gesellschaft, deren Brüche er in Gedichten und Filmen radikal offenlegt. Ein Dissident zwischen allen Stühlen, verhasst von der Rechten, vom Vatikan als Satan verteufelt und von der Linken abgelehnt. Die Kommunistische Partei schließt ihn wegen „moralischer Unwürdigkeit“ aus.
Die Auswüchse der Konsumgesellschaft erlebt der Marxist Pasolini als einen Albtraum: „Wir haben es mit dem Entstehen eines neuen Totalitarismus zu tun, einem gesellschaftlichen Prozess, den ich als kulturelle Gleichschaltung oder Nivellierung bezeichne, die weit über den Faschismus hinausgeht. Es ist die Konsumgesellschaft, die alles Authentische und Besondere zerstört.“
Mitbegründer des Neorealismus
Am 5. März 1922 als Sohn eines gewalttätigen Mussolini-Anhängers und einer antifaschistischen Mutter geboren, wächst Pier Paolo Pasolini in ärmlichen Verhältnissen auf. Aufstände der Landarbeiter im Friaul gegen die Großgrundbesitzer prägen sein politisches Denken. Mit 27 Jahren kommt er im Januar 1950 nach Rom, wo er in der Borgata, einem Slum am Stadtrand, ums Überleben kämpft.
In seinem ersten Roman „Ragazza di Vita“ schildert er 1955 das raue Leben kleinkrimineller Jugendlicher in den Elendsvierteln. Unterstützt von Regisseur Federico Fellini entdeckt Pasolini das Kino für sich und erhält für seine neorealistischen Debütwerke „Accatone“ und „Mamma Roma“ großes Lob der internationalen Filmkritik.
Rund 20 filmische Essays und Spielfilme dreht Pasolini von 1961 bis 1975. Sein letzter, „Die 120 Tage von Sodom“ nach dem Roman des Marquis de Sade, ist sein radikalster. Wegen drastischer Darstellungen widerwärtiger, faschistischer Gewalt zählt er zu den umstrittensten Werken der Filmgeschichte und steht noch heute in vielen Ländern auf dem Index. Der Regisseur selbst erlebt die Uraufführung nicht mehr: Wenige Monate zuvor wird er in Ostia umgebracht.
Wer sind die wahren Mörder?
An der Schilderung des Tathergangs durch den als Mörder verurteilten Pino Pelosi bestehen allerdings schon damals starke Zweifel. Zeugenaussagen und gerichtsmedizinische Untersuchungen hatten ergeben, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mehrere Personen an Pasolinis Ermordung beteiligt waren.
So konnten keine Reifenspuren an dessen Leiche festgestellt werden, was der Aussage Pelosis widersprach. Dagegen deuten die verheerenden Verletzungen auf einen stumpfen Metallgegenstand als Tatwaffe hin. 2005 erklärt Pelosi, den Mord auf Anweisung dubioser Hintermänner ausgeführt zu haben. Als er schließlich eine Tatbeteiligung völlig bestreitet, wird der Fall neu aufgerollt, aber 2015 wegen fehlender neuer Beweise endgültig zu den Akten gelegt.“
(WDR, Detlef Wulke, Matti Hesse)
Sie können die Sendung, die am 5.2.2022 in der Reihe „ZeitZeichen“ lief, über die Seite des WDR nachhören oder als Audiodatei herunterladen.
Deutschlandfunk Kultur „Lange Nacht“: „Eine verzweifelte Vitalität – 100. Geburtstag von Pier Paolo Pasolini“
„Am 5. März 2022 wäre Pier Paolo Pasolini 100 Jahre alt geworden. Der Autor, Dichter und Filmemacher wurde mit seinen polarisierenden und künstlerisch unvergleichlichen Arbeiten weltberühmt.
In dem Versuch einer Definition sagt Pasolini: „Eine Definition meiner Selbst? Es ist wie die Frage nach der Definition des Unendlichen. Es gibt ein inneres und ein äußeres Unendliches. Wenn ich an mich denke, denke ich an etwas Unendliches. Es ist unmöglich für mich, dafür eine Definition zu finden. Für Sie bin ich wahrscheinlich etwas Bestimmtes, für mich aber bin ich unendlich. Ich bin der Spiegel des äußeren Unendlichen. Und ich kann es nicht definieren. Sicher könnte ich Slogans, Sprüche erfinden, womöglich nette Anekdoten, die für Salongespräche tauglich wären. Vielleicht kann ich aber einen Satz von Elsa Morante über mich zitieren: sie hat mal gesagt ich sei ein Narziss, der glücklich in sich selbst verliebt ist. Aber ich füge hinzu, ein Narziss, der auch unglücklich in die Welt verliebt ist.“
Ein unwürdiges Ende
Am 2. November 1975 in Ostia, Lungomare Duilio, bei Rom fährt um 1 Uhr 30 in der Nacht ein Alfa 2000 CT mit hoher Geschwindigkeit eine Straße entlang. Eine Einheit der Carabinieri verfolgt den Wagen und zwingt den Fahrer anzuhalten. Es ist ein junger Mann, gerade mal siebzehn Jahre alt. Sein Name ist Giuseppe Pino Pelosi. Er scheint außer sich zu sein. Am Kopf hat er eine Wunde. Die Wagenpapiere verraten, dass der Besitzer des Wagens der bekannte Schriftsteller, Filmemacher und Dichter Pier Paolo Pasolini ist.
Die Nachricht verbreitet sich blitzartig: Pier Paolo Pasolini ist von einem seiner Ragazzi di vita auf brutalste Weise ermordet worden. Der Schriftsteller ist am Tag seiner Ermordung 53 Jahre alt. Der Mord wird von der römischen Polizei in den Siebziger Jahren relativ schnell abgehakt, obwohl es Widersprüche und offensichtliche Unglaubwürdigkeiten in diesem Fall gibt. Im Gefängnis sitzt ein geständiger Schuldiger.
Am 7. Mai 2005, dreißig Jahre nach dem Mord an Pasolini. In einer Fernsehsendung „Le ombre del giallo“ sagt Giuseppe Pelosi zum ersten Mal in der Öffentlichkeit, dass er in jener Nacht zwischen dem 1. und dem 2. November 1975 am Idroscalo nicht allein war. Drei Männer mit sizilianischem oder kalabresischem Akzent hätten Pasolini zu Tode geprügelt. Pelosi nennt auch Namen. Alles Menschen, die heute tot sind. Er habe versucht, Pasolini zu verteidigen und sich so die Verletzungen am Kopf zugezogen. So lautet heute die Wahrheit von Pelosi.
Prägung in der Kindheit
Pier Paolo Pasolini wurde am 5. März 1922 in Bologna geboren. In dieser „Stadt voller Bogengänge“, fing er vor dem zweiten Weltkrieg an, Kunstgeschichte zu studieren. Seine künstlerische Begabung und sein profundes Wissen spiegeln sich später in seiner Filmästhetik wieder.
Die Beziehung zwischen Pasolini und seiner Mutter ist innig, eine Art Symbiose, eine große Liebe… „Sie erzählte mir Märchen, Fabeln, sie las sie mir vor. Meine Mutter war für mich wie Sokrates. Sie hatte, und hat immer noch, eine idealistische, und sicher auch eine idealisierte Auffassung der Welt. Sie glaubt wirklich an Heroismus, Barmherzigkeit, Mitleid, Großzügigkeit. Das alles habe ich auf eine fast pathologische Weise von ihr aufgesaugt.“
Die Beziehung zum Vater, einem Offizier, war von Anfang an belastet: „Jeden Abend wartete ich mit Panik auf die Stunde des Die Beziehung zum Vater, einem Offizier, war von Anfang an belastet: „Jeden Abend wartete ich mit Panik auf die Stunde des Abendessens, in der Gewissheit, dass es zu Streitereien kommen würde.“, in der Gewissheit, dass es zu Streitereien kommen würde.“
Bewegte Gemälde
Als Filmemacher war Pasolini Autodidakt. Sein Auge ist zweifellos an der Kunst der gro8en Meister der italienischen Renaissance und jener der Moderne geschult. Und genau darin liegt oft das Geheimnis der Schönheit seiner filmischen Bilder jenseits der Zerrissenheit und der Gewalt der dargestellten Charaktere und trotz der aufwühlenden Dramatik der Drehbücher.
Über seine Technik als Filmemacher schrieb Pasolini: „Was ich als Vision im Kopf habe als Sichtfeld sind die Fresken von Masaccio und Giotto – sie mag ich von den Malern am meisten, neben bestimmten Manieristen (zum Beispiel Pontormo).
„Ich kann keine Bilder, Landschaften und Figurenkompositionen verstehen, die keinen Bezug haben zu dieser meiner anfänglichen Leidenschaft für die Malerei des 14. Jahrhunderts, die den Menschen zum Mittelpunkt jeder Perspektive macht. Wenn meine Bilder in Bewegung sind, dann so, als bewegte sich das Objektiv auf ihnen wie auf einem Gemälde: ich verstehe den Hintergrund immer als den eines Gemäldes, als ein Bühnenbild, und deswegen greife ich es immer frontal an.“ […]
Ausblick auf die Zukunft
Dreißig Jahre nach Pasolinis Tod gewinnt seine Position erneut Gewicht und offenbart prophetische Züge. Wir befinden uns in einer Zeit einer gewaltigen Migrationswelle aus den armen, politisch unsicheren Ländern, wie die Verse aus Alì dagli occhi azzurri belegen. Der Dichter evoziert ein Heer von Einwanderern, die das Mittelmeer überqueren und an der Küste Italiens landen… Enzo Siciliano schreibt in seiner großen Pasolini Biographie: „Pasolini sah eine stürmische Zukunft voraus, eine Zukunft voller sozialer Konflikte, zu deren Lösung die alten, festgefügten Schemata und die alten Überzeugungen keinen Beitrag mehr würden leisten können.
Als kulturpolitischer Denker und Beobachter der Entwicklung unserer westlichen Gesellschaft ist Pasolini Ende der Siebziger Jahre zum Pessimisten geworden. Als Künstler kämpft er gegen die Verzweiflung an und bleibt empfänglich für den Zauber der Welt.
Weg zurück zur Menschlichkeit
„Der Atem Indiens“, ein Bericht über Pasolinis erste Reise durch den Subkontinent, beweist seine Faszination für ferne Länder: „Die Begegnung mit der Dritten Welt kann uns zeigen, dass es etwas wie einen gemeinsamen Nenner zwischen allen Menschen gibt.“
Die Botschaft Pasolinis ist klar: in den tiefen Schichten der Geschichte, des Lebendigen überhaupt, ist ein Kontinuum der Welterfahrung vorhanden. Und der Schlüssel, den wir brauchen, um uns diese Erfahrung wieder aneignen zu können, ist in unserem menschlichen Körper aufbewahrt oder begraben, solange er nicht von der Konsumgesellschaft beherrscht, versklavt und im Sinne Pasolinis verstümmelt worden ist.“
(Deutschlandfunk, Agnese Grieco)
Die Sendung lief am 5.3.2022 im Deutschlandfunk. Eine Audio-Aufnahme ist leider nicht mehr verfügbar, aber Sie finden auf der Seite des Senders noch das Manuskript zum Download.