„Seine Alltagschronik der Nazi-Zeit zeigt, wie viel die Deutschen gewusst haben müssen. Der Holocaust-Überlebende Victor Klemperer hat den Schrecken Tag für Tag dokumentiert.
„Es kommt nicht auf die großen Sachen an, sondern auf den Alltag der Tyrannei, der vergessen wird.“
So lautet am 8. April 1944 der Tagebucheintrag von Victor Klemperer. „Tausend Mückenstiche sind schlimmer als ein Schlag auf den Kopf. Ich beobachte, notiere die Mückenstiche.“
Der jüdische Romanist dokumentiert aus der Perspektive eines Verfolgten den Alltag im Nationalsozialismus. Schon kurz nach der Machtübernahme von Adolf Hitler ist für Klemperer klar: „Alles, was ich für undeutsch gehalten habe, Brutalität, Ungerechtigkeit, Heuchelei, Massensuggestion bis zur Besoffenheit, alles das floriert hier.“
Mit Deutschland identifiziert
Klemperer ist der Prototyp des gebildeten assimilierten Juden, der sich mit Deutschland identifiziert. Geboren wird er am 9. Oktober 1881 in Landsberg an der Warthe. Sein Vater ist dort Rabbiner. Victor ist das jüngste von neun Kindern. Die Familie ist der Moderne gegenüber aufgeschlossen, der Vater wird an die jüdische Reformgemeinde Berlin berufen.
Klemperer, der zum Protestantismus übertritt, studiert Philosophie, Romanistik und Germanistik. Im Ersten Weltkrieg kämpft er als Freiwilliger an der Westfront. 1920 wird er Professor für Romanistik an der Technischen Hochschule Dresden. Als Klemperer von den Nationalsozialisten seines Amtes enthoben wird, bleibt er in Deutschland – trotz zunehmender Repressalien.
Bombenangriff als Rettung
Er wird aus seinem Haus vertrieben, muss in ein „Judenhaus“ umziehen und wird zur Zwangsarbeit verurteilt. Obwohl es lebensgefährlich ist, führt er weiterhin Tagebuch. Er darf weder Papier noch Schreibzeug besitzen. Fünf letzte Bleistifte versteckt er an fünf Orten. Seine Frau Eva schmuggelt die Papiere zu Freunden, die sie verwahren.
Als am 13. Februar 1945 Bomben auf Dresden fallen, ist das die Rettung für Klemperer und seine Frau. Sie können vor der drohenden Deportation fliehen und sich in Bayern verstecken. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kehren die beiden zurück nach Dresden. Klemperer beginnt, wieder zu lehren. In der DDR wird er SED-Mitglied und Abgeordneter der Volkskammer.
„Zeugnis ablegen“
Victor Klemperer stirbt am 11. Februar 1960 in Dresden. Seine Tagebücher der Nazi-Zeit erscheinen posthum 1995 unter dem Titel „ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“.
Der 2012 verstorbene Herausgeber Walter Nowojski ist sich sicher: „Der Satz, der noch nie stimmte, ‚wir haben alle nichts gewusst‘, ist seit der Veröffentlichung der Tagebücher Victor Klemperers überhaupt nicht mehr möglich.““
(WDR, Almut Finck, Gesa Rünker)
Sie können die Sendung, die am 9.10.2021 in der Reihe „ZeitZeichen“ lief, über die Seite des WDR nachhören oder als Audiodatei herunterladen.