„Emil Krebs ist ein Sprachwunder: Der Dolmetscher arbeitet während der Kolonialzeit für das Auswärtige Amt in China und beherrscht 68 Sprachen. Wie geht das – so viele Sprachen lernen?
Wer viele Sprachen sprechen will, braucht nicht nur viel Talent, sondern auch Selbstdisziplin. Emil Krebs, Dolmetscher und Legationsrat an der deutschen Gesandtschaft in Peking, hat die Angewohnheit, beim Lernen solange auf- und abzugehen, bis sich auf dem Teppich eine kreisrunde Spur abzeichnet. Seine Frau Amande ist davon nicht angetan: „Ach Krebschen, wenn Du doch beim Lesen und Repetieren das beständige Umherlaufen einstellen könntest!“
Doch Krebs lässt sich nicht irritieren: „Mir das abzugewöhnen: ganz gelungen ist es ihr noch nicht.“ Im Nachlass seiner Bibliothek finden sich später 71 Selbstlernhilfen des Leipziger Hartleben-Verlags. Die Bücher sind alle gleich aufgebaut. Diese Systematik erlaubt das Sprachenlernen im Akkord. Dabei ist allerdings Durchhaltevermögen angesagt: Allein schon die Aussprache-Hinweise in den Hartleben-Büchern lesen sich ganz schön kompliziert.
Für die deutsche Kolonialmacht in China
Bereits seine erste Fremdsprache bringt sich Emil Krebs selbst bei — mithilfe eines Französisch-Wörterbuches, das der Neunjährige in seiner Dorfschule findet. Geboren wird Emil am 15. November 1867 im schlesischen Freiburg, dem heutigen Swiebodzice, als Sohn eines Zimmermanns. Als einziges der zehn Kinder studiert er in Berlin Jura, um sich beim Auswärtigen Amt als Dolmetscher bewerben zu können. Parallel dazu besucht er das „Seminar für orientalische Sprachen und Kulturen“ (SOS), wo er unter anderem Chinesisch lernt.
Als 1893 in Peking eine Stelle als Dolmetscher-Aspirant frei wird, reist Krebs nach China. Er hat viel zu tun: Deutschland als damalige Kolonialmacht möchte Anlegestellen in chinesischen Häfen bekommen, Abbaurechte für Kohle und Wegerechte für Eisenbahnen. Als 1897 zwei deutsche Missionare ermordet werden, ist das für Kaiser Wilhelm II. ein willkommener Vorwand, um die Kiautschou-Bucht zu besetzen, die schon länger als deutscher Marinestützpunkt und Handelshafen vorgesehen ist.
Enger Kontakt zu chinesischen Gelehrten
Wegen seiner hervorragenden Chinesischkenntnisse sorgt Krebs vor Ort dafür, dass der Rückzug der chinesischen Armee reibungslos und ohne Gegenwehr abläuft. Der zuständige chinesische General lässt sich gefangen nehmen. Drei Jahre später wird Kiautschou per Vertrag zum deutschen Pachtgebiet. Damit schließt Deutschland auch in China zu den anderen Kolonialmächten auf.
Während Krebs das Vorgehen des Deutschen Kaisers damals noch klar unterstützt, distanziert er sich allmählich vom deutschen Kolonialismus. Er hat immer engeren Kontakt zu chinesischen Gelehrten und sogar mit der Kaiserin-Witwe. 1920, als das Deutsche Reich keine Kolonialmacht mehr ist, schreibt er: „Die nunmehr etwa achtzigjährige Geschichte der näheren Beziehungen Chinas zu den europäischen Staaten stellt eine ununterbrochene Kette von Vergewaltigungen der territorialen und souveränen Rechte Chinas auf politischem, wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet dar.“
Bis drei Uhr früh lernen
Nachdem Krebs während des Ersten Weltkrieges China verlassen muss, arbeitet er in Berlin im Sprachendienst des Ministeriums weiter. Tagsüber übersetzt er amtliche Texte aus mehr als 40 Sprachen. Nachts lernt er manchmal bis drei Uhr früh in seiner Studierstube im Berliner Westend eine Sprache nach der anderen. Der damalige Leiter des Sprachendienstes, Paul Gautier, ist begeistert: „Krebs ersetzt uns 30 Außendienstmitarbeiter.“
Emil Krebs stirbt am 31. März 1930 während einer Übersetzung an einem Hirnschlag. Nach seinem Tod untersuchen Forscher sein Gehirn – und entdecken, dass ein für die Sprachproduktion relevantes Areal im Schläfenbereich besonders ausgeprägt gewesen ist.“ (WDR, Kerstin Hilt, David Rother)
Sie können die Sendung, die am 15.11.2022 in der Reihe „ZeitZeichen“ lief, über die Seite des WDR nachhören oder als Audiodatei herunterladen.