„Elsa Sophia von Kamphoevener ist auf doppelte Weise eine Märchenerzählerin: Die Schriftstellerin erzählt nicht nur Geschichten, sie erfindet auch Teile ihres Lebenslaufes.
Die Legende geht so: Als Jugendliche will Elsa Sophia von Kamphoevener das anatolische Hinterland der Türkei kennenlernen. „Es lag mir so sehr daran, das eigentliche Volk kennenzulernen, das Volk Kleinasiens“, sagt sie später. Sie sei eine passionierte Reiterin gewesen und habe „meistens auf dem Pferde“ gelebt.
Verkleidet als junger Mann habe sie sich in die Männergesellschaft der Hirten eingeschlichen und dort professionellen Erzählern zugehört. „In Kleinasien bin ich herumgeritten, jahraus, jahrein, monatelang da herumgeritten, und kam immer wieder in den Karawan-Serail mit den Märchenerzählern zusammen.“ Doch diese Darstellung ist ein Lügenkonstrukt.
Die Mär der geschenkten Märchen
Märchenerzähler sind damals Männer, die über Land wandern und ihre jahrhunderte alten, mündlich tradierten Geschichten weitergeben – oft in Karawansereien, wo Hirten und Händler mitsamt ihren Tieren in der Nacht Schutz suchen. Sie bilden eine Art Gilde, in der streng darauf geachtet wird, dass keiner die Geschichten des anderen stiehlt.
Die Familien der Märchenerzähler besitzen höchstens 40 bis 60 Märchen, die sie als ihr Eigentum hüten. Dieser Märchenschatz ist das Kapital, von dem sie leben. Und dann sollen sie diese einem vermeintlichen Mann, der aus dem Westen kommt, einfach so überlassen? Was für ein Märchen!
In Reichtum und Überfluss aufgewachsen
Tatsächlich verläuft das Leben von Elsa Sophia von Kamphoevener offenbar etwas anders, als sie sich das wünscht. Geboren wird sie am 14. Juni 1878 in Hameln und wächst im Osmanischen Reich auf. Dort reorganisiert ihr Vater, der deutsche Militärexperte Louis Kamphövener, für Sultan Abdulhamid II. die Osmanische Armee. Die Familie wohnt in der Hauptstadt Konstantinopel, dem heutigen Istanbul. Sie kann sich einen gehobenen Lebensstil leisten, da Louis Kamphövener den Rang eines Paschas hat.
„Es herrschen Reichtum und Überfluss“, schreibt die Biografin Helga Moericke. „An Geburtstagen werden Elsa Sophia Blumengewinde überreicht, in denen der Vater goldene Ringe versteckt hat.“ Sie wird auch von einer Dienerschaft verwöhnt, die aus unterschiedlichen Gegenden stammt. Vermutlich durch das Personal oder auf dem Basar in Istanbul lernt Elsa Sophia Märchenerzähler aus Anatolien kennen.
Von wegen gute Reiterin
Um gesellschaftlichen Schliff zu bekommen, besucht die Pascha-Tochter für ein paar Jahre eine Schule für „Höhere Töchter“ in Hildesheim. 1894 kehrt die 16-Jährige nach Konstantinopel zurück. Ihr Vater kauft ihr ein Pferd. Doch entgegen ihren späteren Schilderungen kann sie damit nichts anfangen. „Nach dem ersten Ausritt kam das Pferd allein zurück“, erzählt ihr älterer Bruder Kurt später. „Als sich das wiederholte, war es mit dem Reiten endgültig vorbei.“
Elsa Sophia von Kamphoevener hält sich nie in Anatolien auf, aber sie ist fasziniert von den Geschichten, die sie hört. Sie sammelt die Märchen, die in blühenden Gärten spielen, bevölkert von Geistwesen wie Feen und Dschinns. Mit 22 Jahren heiratet Elsa Sophia, lässt sich aber bald scheiden. Ihr Sohn bleibt bei seinem Vater, sie verlässt Konstantinopel 1906 für immer.
Als „Kamerad Märchen“ an der Front
In Deutschland führt sie drei weitere Ehen — mit einem Arzt, einem Schriftsteller und einem Kurdirektor. Sie schönt ihre Biografie und nennt sich nun „Baronin von Kamphoevener“ – mit schickem „OE“ statt des ordinären „Ö“. Sie schreibt Artikel und Trivialromane, gründet eine eigene Zeitschrift, die nach wenigen Ausgaben eingeht, lebt von Vorträgen und Übersetzungen – oft an der Armutsgrenze.
1942 – mitten im Zweiten Weltkrieg – meldet sich die „Baronin“ freiwillig zur Truppenbetreuung an die Front. Dort erzählt sie – am liebsten in orientalischen Pluderhosen – türkische Geschichten und wird deshalb von den Wehrmachtsoldaten „Kamerad Märchen“ genannt.
Nach dem Krieg wird die „Baronin“ Kult
Nach Kriegsende kriecht Elsa Sophia bei Freunden unter, weil ihre Berliner Wohnung ausgebombt ist. 1951, in der Kantine des Stuttgarter Rundfunks, kommt sie mit einem Journalisten ins Gespräch und verblüfft ihn mit ihren türkischen „Erinnerungen“. Sie kann im Studio ihre Märchen erzählen – und beginnt damit eine späte Karriere. Radiosendungen mit türkischen Märchen machen sie berühmt.
Sie wird zu Lesungen eingeladen und gibt Sammelbände heraus. Der bekannteste Band heißt „An Nachtfeuern der Karawan-Serail“. Später wird ihr nachgewiesen, dass sie zum Teil aus einer Anthologie des ungarischen Märchenforschers Ignaz Kúnos von 1906 abgeschrieben hat. Doch ihre Lügen werden erst nach und nach enttarnt. Als Elsa Sophia von Kamphoevener am 27. Juli 1963 mit 85 Jahren in Traunstein stirbt, ist sie noch bundesweit Kult und als „Die Märchenbaronin“ bekannt.“
(WDR, Jutta Duhm-Heitzmann & Gesa Rünker)
Sie können die Sendung, die am 27.7.2023 in der Reihe „ZeitZeichen“ lief, über die Seite des WDR nachhören oder als Audiodatei herunterladen.