16. März 1908 – Der Schriftsteller René Daumal wird geboren
Sein Leben ist eine einzige Sinnsuche. Dabei lässt sich der Schriftsteller René Daumal auch auf Drogen, Esoterik und östliche Kulturen ein. Sein Werk gipfelt im unvollendeter Roman „Der Berg Analog“.
„Der Gedanke, dass viele Menschen ihr ganzes Leben eigentlich schlafen, zieht sich wie ein roter Faden durch seine Arbeit“, sagt die Literaturwissenschaftlerin Bieke Willems von der Universität Köln über den Franzosen René Daumal. „Er sucht stets nach Wegen, um im Laufe des Lebens aufzuwachen.“ Auf der Suche ist der am 16. März 1908 in den Ardennen geborene Schriftsteller schon als Jugendlicher.
In Reims gründet Daumal 1922 mit drei anderen Gymnasiasten die Bruderschaft der „Simplisten“. Inspiriert hat sie dazu ein Lehrer mit seiner Ermahnung, sich vor allzu simplen Erklärungen zu hüten. „Experimentelle Metaphysik“ nennen die vier ihre Selbstversuche mit sogenannten Entrückungszuständen. Um psychische und physische Grenzerfahrungen zu machen, experimentieren sie unter anderem mit Schlafentzug, Hypnose, Haschisch, Lachgas und Opium.
Rebellisch gegenüber der Gesellschaft
Daumal geht am weitesten: Unter Beobachtung seiner Freunde will er Nahtoderfahrungen machen. Dafür setzt er die giftige Flüssigkeit Tetrachlormethan ein, die er als Schmetterlingssammler verwendet. In seinem Schreibheft notiert er: „Was uns von Heiligen unterscheidet, ist unser Vergnügen, an den Rändern der Hölle umherzustreifen. Wir führen uns selbst in Versuchung.“
Mit 20 Jahren gründet Daumal 1928 in Paris mit Freunden die Zeitschrift „Le Grand Jeu“ („Das große Spiel“). Die einzige Regel für die Redaktion ist der „Dogmen-Bruch“, die Tradition des Nein. Zu den Bewunderern des Hochbegabten gehört der Surrealist André Breton. Doch das umworbene Jungtalent reagiert ablehnend. Daumal will seine Zeitschrift vor Bevormundung schützen.
Streben nach metaphysischer Befreiung
Die Grundvoraussetzung für Erkenntnis sieht Daumal in „einer Gemeinschaft von Menschen, die ein und dieselbe Suche verbindet“. Es gehe um gemeinsames Handeln. „Literatur und Kunst sind für uns bloße Mittel.“ Doch die Gemeinschaft der Jugendfreund zerbricht, auch die Redaktion von „Le Grand Jeu“.
Anfang der 1930er-Jahre begegnet Daumal einem Vertrauten des griechisch-armenischen Esoterikers Georges I. Gurdjieff. Dieser propagiert den spirituellen „Vierten Weg“: eine Arbeit am Selbst, an den eigenen Potenzialen. Daumal ist davon fasziniert. Er hält die östlichen Kulturen für eine Möglichkeit, einer metaphysischen Befreiung näher zu kommen. Bereits mit 17 Jahren hat er Sanskrit gelernt und indische Schriften übersetzt.
Zwischen „großem Besäufnis“ und „Gegenhimmel“
Daumal reist in die USA, um als Pressesprecher für einen indischen Tänzer und seine Truppe zu arbeiten. Auf der Rückfahrt schreibt er vier Monate später die erste Version seines Buches „Das große Besäufnis“. Darin rechnet er nicht nur satirisch mit seinen ehemaligen Mitstreitern ab, sondern auch mit dem Kunst- und Wissenschaftsbetrieb der 1930er-Jahre.
Seinen ersten literarischen Erfolg hat Daumal mit dem Gedichtband „Contre-Ciel“ („Gegenhimmel“), für den er 1936 mit einem Preis ausgezeichnet wird. Im Alter von 30 Jahren entwirft Daumal das utopische Gegenstück zum „großen Besäufnis“. Nach dem Absturz will er den Aufstieg beschreiben.
„Der Berg Analog“ bleibt Fragment
Doch sein Elan wird gebremst: erst durch eine Tuberkulose-Diagnose, dann durch den Überfall der Wehrmacht auf Frankreich. Mit seiner jüdischen Freundin Vera flieht er in die noch unbesetzte Südzone des Landes. Dort schreibt er an einer Erzählung von Menschen, „die begriffen haben, dass sie in einem Gefängnis leben“. Die Gruppe macht sich im Gebirge auf die Suche nach einer „höheren Menschheit“, bei der sie „die notwendige Hilfe“ erhält.
„Der Berg Analog“ ist ein „alpinistischer Abenteuerroman“, der jedoch Fragment bleibt. Er endet nach gut 100 Seiten mitten im Satz. René Daumal stirbt im Mai 1944 mit 36 Jahren an seiner Krankheit – wenige Monate vor der Befreiung von Paris. Heute ist das Buch vor allem in Frankreich und den USA Kult – wohl auch wegen des prophetischen Hinweises auf den letzten Seiten, dass es katastrophale Auswirkungen haben könne, wenn der Mensch ins Gleichgewicht der Natur eingreife.
(WDR, Christoph Vormweg, David Rother)
Sie können die Sendung, die am 16.3.2023 in der Reihe „ZeitZeichen“ lief, über die Seite des WDR nachhören oder als Audiodatei herunterladen.