Wie dient das Gymnasium dem Leben?

Schulberichte vom Anfang des 20. Jahrhunderts

In der alten Bibliothek des Gymnasium Petrinum findet sich eine große Anzahl von vergilbten Heftchen mit merkwürdig klingenden Titeln. Staub und Schmutz lagern auf ihnen. Sie stammen aus den Jahren 1907 bis 1914 und sind sogenannte"Schulberichte", die damals von vielen deutschen Schulen zum Petrinum geschickt wurden. Aus dem Zeitraum vor und nach diesen Jahren finden sich keine Berichte.

Zunächst scheinen die Berichte aus einer anderen Welt zu stammen. Die Schulen tragen so wohlklingende und hochherrschaftlich klingende Namen wie "Großherzogliche Realschule", "Königliches Gymnasium", "Kaiserin-Augusta-Gymnasium". Sie finden sich in Berlin, Frankfurt, Lübeck, Trier, Dortmund und anderswo. Die Naturwissenschaften sind im Prozess der Namensgebung aber auch schon präsent, zum Beispiel ein "Werner-Siemens-Realgymnasium" in Schöneberg. Die Schriftzüge, die Lettern, die in diesen Heftchen verwendet werden, sind anders als in heutigen Computerprogrammen: manche verschnörkelt und verspielt, andere zeitlos sachlich. Die Schulen lieferten pro Schuljahr ein Programm, einen Jahresbericht über die bei ihnen geleistete Arbeit.

Ein Heft, das eher zufällig ausgewählt wurde, stammt von der "Großherzoglichen Realschule zu Neustrelitz". Es enthält das Programm, das Ostern 1912 versandt wurde. Es berichtet 1912, wie man Kaisers Geburtstag beging am 27.01.1912, wer die Festrede vor der Schulgemeinde hielt (Prof. Beyer) und wessen man dabei besonders gedachte (Friedrichs des Großen). Außerdem, so erfährt man, wurden noch die Geburtstage "Seiner Königlichen Hoheit, des Großherzogs Adolf Friederich" (von Mecklenburg) am 22.Juli begangen sowie der "Ihrer Königlichen Hoheit, der Großherzogin Witwe" am 7.September. Auch der Sedan- Tag wurde gefeiert. Es gab eine Festrede (Lehrer Oldenburg), "dann begab sich die Schule in gemeinsamem Zug zu dem Kriegerdenkmal und legte, nachdem Prof.Beyer eine kurze patriotische Ansprache gehalten hatte, einen Kranz am Fuße desselben nieder." (ebenda, S.5). "Bei einem Besuch Ihrer Majestäten des deutschen Kaisers und der Kaiserin am hiesigen Großh. Hofe nahm am 7.Juni 1911 die Schule gleich den anderen Lehranstalten der Residenzstadt an der Festaufstellung teil." (ebenda, S. 5). Besondere Ereignisse werden erwähnt (Die Schüler durften der Landung des Luftschiffes "Parseval 6" beiwohnen).

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Die Prüfungen werden öffentlich gemacht, indem alle Aufgaben nachträglich veröffentlicht werden: "Im Deutschen ein Aufsatz über das Thema 'Deutsche Erhebungsversuche gegen Napoleons Übermacht 1809'". Die Unterrichtsinhalte aller Klassen sind aufgeführt ("Obertertia, Mathematik, 4 Stunden, von den geometrischen Örtern"). Man unterrichtete an dieser Schule Französisch vierstündig, Englisch dreistündig und Lateinisch sechsstündig. Es gab Mathematik und "Bürgerliches Rechnen", Naturgeschichte, Erdkunde ("Die Staaten Europas außer dem Deutschen Reich") und Geschichte. Ab der Obertertia, bei uns ist das die Klasse 9, erteilte man auch das Fach Physik ("Einfache Erscheinungen der Mechanik und Wärmelehre"), ab der Sekunda Chemie. Die Statistik der Schule, die Schülerzahl, erscheinen. Der Haushalt der Schule und nicht zuletzt die "Geschenke sind verzeichnet": "Das Geschenk Sr. Kgl.Hoheit des Großherzogs 'Deutschland als Weltmacht' wurde Allerhöchster Bestimmung gemäß zu Ostern 1911 als Prämie für Fleiß und dauerndes Wohlverhalten dem Ober-Sekundaner Richard Wegener verliehen." (ebenda S. 18).

Auch in jenem so weit entfernten Schuljahr gab es ein Leben neben der Schule. Wir lesen: "Am 9. November 1911 veranstaltete der Verein ehemaliger Schüler der Großh. Realschule im hiesigen Schützenhause einen "Geselligen Abend", zu dem die jetzigen Schüler eine Einladung erhielten, um durch musikalische und deklamatorische Vorträge, sowie durch turnerische Leistungen sich daselbst zu betätigen". Es handelt sich hier offenbar um einen Vorläufer des Turniers um den Josef-Reike-Pokal in Neustrelitz.

Als zweiten Teil enthalten die Hefte je einen Aufsatz von einem Mitglied des Kollegiums, das sich einem fachwissenschaftlichen oder pädagogischem Thema widmet. Und hier endet das Fremdartige dieser Publikationen. Wirft man einen Blick auf die Themen dieser Fachaufsätze, so erkennt man lauter Vertrautes. "Charakter und Schule", "Das Gymnasium in seiner Vorarbeit für Weltkenntnis und Weltanschauung sowie Gedanken über Charakterbildung", diese Themen werden zum Beispiel erörtert.. "Einbildung und Willenskraft im Dienste der Formung des Menschen." Eigentlich sind solche Fragen noch immer das Zentrum jedes pädagogischen Tuns. Ein ganz zentrales Problem stellte sich und den Lesern ein Direktor aus dem Harz. Er nannte seinen Aufsatz : "Wie dient das Gymnasium dem Leben?". Ja, wie eigentlich? Daneben gibt es auch solche Autoren, die die pragmatischeren Gedanken verfolgt haben. "Über Wesen und Förderung der Aufmerksamkeit", "Die wichtigsten Grundregeln gesunder Lebensführung für die Jugend", "Über Fehler und Fehlerquellen", "Über Wesen und Förderung der Aufmerksamkeit".

Eine dritte Gruppe von Veröffentlichungen beeindruckt durch einen überraschend frischen und forschen Wind, der uns aus den alten Zeiten entgegenbläst. Da lesen wir Titel wie: "Schule und Haus in ihren gegenseitigen Beziehungen", "Zur freieren Gestaltung des Unterrichts in Prima", "Die Frage der Selbständigkeit in der Pädagogik Basedows", "Koedukation an höheren Lehranstalten", "Lehrer und Schüler in ihren Beziehungen zueinander". Dr. Hans Ulrich Weber aus Lübeck von der Oberrealschule vor dem Holstentore schreibt unter dem schönen Titel "Meine Klasse und ich außerhalb der Schule", wie er seine Jungs allwöchentlich in die freie Natur zum Sport führt, wie sie ihre Umwelt verstärkt wahrnehmen und empfinden, wie sie Gemeinschaftsgeist und Vaterlandsliebe entwickeln und und und. Man glaubt in einem anderen Jahr zu sein als im Jahr 1913, als sich dies an einer Lübecker Schule abspielte.

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Wer sich in diese vergangene Welt vertieft, der entdeckt verblüffend Zeitgemäßes. Ich wähle als erstes eine Heftchen mit dem Titel: "Lehrer und Schüler in ihrer Beziehung zueinander". Dr. Ludwig van Laak, Oberlehrer, der in Linz am Rhein arbeitete, hat den umfangreichen Text verfasst. Auf einundsiebzig Seiten verfolgt er das Thema. "Lehren und Lernen sind relative Begriffe." So ködert er den noch unentschlossenen Leser, um dann über die Stationen Sparta, Athen, Rom, Humanismus und Reformation bis zum 19. Jahrhundert vorzudringen. Auf vierundfünfzig Seiten hat Dr. van Laak die Erziehungsideale, das Verhältnis von Staat und Schüler und die Unterrichtsinhalte untersucht. Wir übergehen es. Im 19. Jahrhundert sieht der Autor eine völlig neue Periode angebrochen. Der Staat, der vordem die Schulen eher locker führte, habe die Familie mit Kindern jetzt fest im Griff, dadurch, dass er die Bildung stärker normiert und geregelt habe. Er bzw. die Schule hätten zu bestimmen, "wann die Familie in die überfüllte Sommerfrische geht." Hier scheint eine gewisse persönliche Betroffenheit Dr. van Laaks durchzuschimmern. Das hat unsere Schulministerin ja auch fest in die Hand genommen. Es wird demnächst im August in die überfüllte Sommerfrische gehen.

Der Autor verweist klagend auf häufig bestehende Spannungen zwischen Elternhaus und Lehrern und führt aus, dass "Der schlaue Junge" oft schon vorgebaut habe und "gerade den Lehrer zum Gegenstand witziger Tischgespräche gemacht" habe, dessen Fach ihm Schwierigkeiten bereitet. Der Autor verweist auf Debatten über zu freiheitliche "Schulzucht" in den Parlamenten und Zeitungen und sieht in dieser öffentlichen Uneinigkeit ein Übel. "Es wird sich auch nie ändern, daß Eltern ihre Kinder auf der Schule falsch beurteilt und behandelt sehen". Er klagt über "falschen Ehrgeiz" mancher Eltern, die ihren Kindern das Leben "zur Qual" machten. "Heute peitscht der Ehrgeiz der Eltern Söhne und Töchter unbarmherziger, als die rohe Dummheit von Anno dazumal es wagte." Spätestens an dieser Stelle erkennt der Leser, wes Geistes Kind der Autor ist, er erwähnt sogar Mädchen! Die kommen sonst so gut wie nie vor. Herr Dr. van Laack ist ein Freigeist, ein Libertin beachtlichen Ausmaßes.

Der Schulärger finde überdies Nahrung "in der beißenden Kritik, der unser höheres Schulwesen fortgesetzt in Zeitung, Roman und Theater ausgesetzt ist." Genau! Unter der Überschrift "Die moderne Menschheit" schreibt er über das Schulwesen nach dem Jahre 1848 und betont, dass es "erhöhte Anforderungen" gebe, die in "der Fähigkeit, selbständig zu urteilen und zu handeln, Initiative ergreifen zu können" gipfelten. Er fordert "sittliche Bildung" und umschreibt als negativ genau das, was man später die "Sekundärtugenden" nennen sollte. Dazu sei Schule ja wohl nicht mehr da. Er spricht sogar von Amerika als einem Vorbild, wo man den Schulen "eine Art Selbstverwaltung" gegeben habe. In einer abschließenden Überlegung, was der Lehrer dem Schüler denn jetzt zu sein habe, erwägt und verwirft er die Möglichkeiten eines Vaters, eines Freundes und landet schließlich bei folgender Bestimmung: Pflegemeister der Jugend, wohlabgestimmt zwischen Liebe und Zucht, mit deutlichen ethischen Idealen. Erstaunlich ist für mich, mit welcher Vehemenz Dr.van Laak den Unterwerfungsgehorsam ablehnt, wie er die Selbständigkeit fordert. In diesem Zusammenhang fällt mir auf, dass ich das Schulberichtsheftchen zur Gänze mit einem Falzbein aufschneiden musste, um es lesen zu können. Ich hatte das Heft sozusagen entjungfert. Im Jahre 1912 war es am Petrinum angekommen und ungelesen weggelegt worden. Ein abgerundeteres Bild der damaligen pädagogischen Debatte erhält der Leser, wenn er einen Vergleichsaufsatz heranzieht. Ich tue das. Dr. Willi Harring vom "Königlichen Realgymnasium zu Nordhausen" schreibt über "Charakter und Schule". Diese Publikation ist noch umfangreicher, viel dichter gedruckt und zählt neunundfünfzig Seiten. Beim Überblättern wird die Mannigfaltigkeit der damaligen Zeit deutlich.

Der Autor schreibt über Schulreformen: "Die Tendenz unserer Zeit der Sentimentalität und Gesundheitsfexerei aber geht dahin, alles zu beseitigen, was irgendwie "die Nerven" anspannen und beunruhigen könnte. Da hat man zuerst den lateinischen Aufsatz und die Übersetzung in das Griechische preisgegeben, dann die Stunden verkürzt, die Examina gemildert. (...) Es ist die Rücksicht auf die schwächlichen Seelen, die dauernd dafür sorgt, die Anforderungen an die Jugend abzuschwächen, (...) Man drückt das Niveau der Anforderungen immer weiter herab, man erhebt öffentliche Klagen über die Leiden der Jugend in der Schule, über die Kurzsichtigkeit der Lehrer, über diese Schülertragödien, die doch nur ein Zeichen sittlicher Erschlaffung bedeuten". Oha. Er zitiert scherzhaft den Vers: "Ein leichter Bildungsgang verzärtelt das Geschlecht: Die Kräfte angespannt - das stählt den Burschen recht." (ebd. S. 32) Und er endet mit den vorausdeutenden Worten: "Wie soll unsere Jugend einst im Feuer bestehn, wenn man sich ängstlich scheut, sie ins Feuer zu führen?" (ebd. S. 32). Ich weiß wohl, bei welchem Menschen ich lieber Schüler gewesen wäre.

Man sieht deutlich, wie wenig sich die pädagogische Debatte im Vergleich zum politischen System geändert hat. Es sind zwar heute eine Vielzahl neuer Begriffe dazugekommen, die entsprechenden Forschungszweige haben weitläufige terminologische Felder entwickelt. Die diskutierten Themen scheinen mir aber sehr ähnlich. Zudem ist ein deutlicher Unterschied im Selbstverständnis des Lehrerberufs erkennbar. Die Autoren der Artikel verstehen sich ohne Frage als Fachleute, und sie sind auch der Meinung, dass andere Lehrer an ihrer Darlegung interessiert sind. (...)

Die entnommenen Zitate stammen aus folgenden Publikationen: "Lehrer und Schüler in ihrer Beziehung zueinander." Von Dr. Ludwig van Laak, Oberlehrer. Linz a.Rh. 1911. Königliches Realgymnasium zu Nordhausen. "Charakter und Schule". Von Dr. Willi Harring Oberlehrer. Beilage zum Jahresbericht 1912 bis 1913. Nordhausen 1913.

 

Text: Andrea Fondermann