Die Bibliothek der Zukunft
Der dritte Preis geht an den Verfasser des klügsten und philosophischsten Textes unter den Wettbewerbsbeiträgen: Herr Jörg Friedrich. Überzeugt hat Herr Friedrich vor allem mit der exzellent formulierten und originellen Idee der Bibliothek als "Gedanken-Gebäude": Nicht mehr die Bücher stehen in fünfzig Jahren im Mittelpunkt, aber auch nicht die elektronischen Medien, sondern die Gedanken selbst. Die alte Vorstellung der Bibliothek als Archiv erfährt hier eine benutzerorientierte Renaissance; die ULB wird für Jörg Friedrich zu einem Ort des lebendigen Austauschs von Gedanken.
Die ersten Bibliotheken gab es vermutlich vor 3.000, vielleicht sogar schon vor 4.000 Jahren, Die Geschichte solcher Büchersammlungen reicht also weit in die Vergangenheit zurück, und es scheint merkwürdig, der Frage nachgehen zu wollen, wie sich eine Einrichtung mit so langer Tradition in den nächsten paar Jahrzehnten verändern könnte. Ist die menschliche Kultur wirklich so dramatisch im Umbruch, dass sich eine eherne Institution innerhalb eines Zeitraums, der gerade einmal ein Prozent ihrer Existenzzeit umfasst, wesentlich verändern könnte?
Die Antwort lautet: Das kommt darauf an, was man als Wesen der Sache versteht. Im modernen Verständnis ist die Bibliothek eine Dienstleistungseinrichtung die, im Interesse ihrer Benutzer dazu da ist, Informationen zu sammeln, zu ordnen und bereitzustellen. Wenn das das Wesen der Bibliothek ist, dann ist tatsächlich ein dramatischer Umbruch zu erwarten, denn die Techniken dieser Dienstleistung sind ganz offensichtlich im grundlegenden Wandel.
Informationen sind, wenigstens im Prinzip, nicht mehr an einen materiellen Träger gebunden, den man lagern und transportieren muss, damit sie genutzt werden könnten. Zwar werden sie auch weiterhin an physischen Orten gespeichert und nehmen dort einen gewissen Raum ein, aber diese Orte müssen nicht mehr aufgesucht werden, damit der Nutzer an die Information gelangt, und diesen Raum muss kein Mensch mehr konkret kennen. Die Lokalisierung der Information, die in verschiedenen Instanzen sogar sicher an verschiedenen Orten gleichzeitig für den sicheren und schnellen Zugriff gespeichert werden kann, wird von einem Algorithmus geleistet, der in den Informationsnetzen implementiert ist.
Aber dass die Bibliothek eine Dienstleistungseinrichtung ist, die den genannten Zwecken zu dienen hat, ist selbst eine recht neue Idee, die nicht das Wesen dessen zum Ausdruck bringen muss, was sich da seit Jahrtausenden entwickelt und gleichzeitig erhalten hat. Zwar kann auch die Bibliothek des Jesuitenordens, auch schon die alexandrinische Bibliothek als eine solche Einrichtung angesehen werden, aber das hieße, sozusagen mit dem grellen Licht unserer heutigen Praxis einen vielfältigen Gegenstand zu beleuchten, und dies auch noch genau aus der Richtung, aus der wir auf ihn schauen - und so ein besonders flaches, unstrukturiertes Bild zu erzeugen.
In Bibliotheken werden Bücher gesammelt, das sagt schon der alte griechische Name und das ist auch noch heute richtig - falsch wäre aber, anzunehmen, dass dies vorrangig dazu geschieht oder je geschah, dass diejenigen, die darin lesen wollen, diese Bücher so unkompliziert wie möglich zur Verfügung gestellt bekommen. Noch nie waren die Anschaffungen von Büchern und anderen Werken darauf gerichtet, der Dienstleistung der Informationsbereitstellung möglichst effektiv zu genügen. Bücher werden in Bibliotheken nicht gesammelt, weil sie gelesen werden sollen, sondern schlicht, weil sie hergestellt wurden, weil sie da sind, und weil es das Ziel einer Büchersammlung ist, möglichst umfangreich oder vollständig zu sein. Aber welchen Zweck hat das? Vielleicht ist diese Frage schon eine sehr moderne Frage, die in den vergangenen Jahrtausenden des Sammelns schlicht unverständlich gewesen ist.
Fragen wir anders: Was entsteht, wenn Bücher gesammelt werden? Es entstehen Räume, die von Büchern begrenzt werden. Wohin man sich in diesen Räumen wendet, wohin man auch greift, trifft man auf Ergebnisse eines früheren Denkens. Man greift ein Buch und öffnet es, und liest unvermittelt einen festgehaltenen Gedanken eines Menschen, der vielleicht schon tot ist, der jedenfalls nicht an diesem Ort ist, von dem jedoch fest steht, dass er diesen Gedanken an einem bestimmten Ort zu einem früheren Zeitpunkt einmal gehabt, dass er ihn entwickelt und festgehalten hat. Der Gedanke wird begriffen.
Bibliotheken sind, in einem ganz buchstäblichen Sinn, Gedankengebäude. Wer durch eine Bibliothek geht, der weiß, dass in den Regalen vergangenes Denken gespeichert ist, es ist dort ganz physisch präsent, man kann es anfassen und öffnen und wahrnehmen. In einer Bibliothek, die ihren Namen verdient, ist man von den Gedanken der Vergangenen umgeben, und man kann sie jederzeit, durch einen Griff zum Sprechen bringen.
Bibliotheken sind keine Informations-Logistik-Zentren, keine Umschlagplätze für Daten und Fakten, keine Wissens-Speicher. Bei der Anschaffung von Büchern und anderen Schriftstücken, bei der Übernahme bestehender Sammlungen, geht es nicht um eine angestrebte Nutzung der enthaltenen Informationen, es geht um den Ausbau der eigenen Sammlung, ihre Vervollständigung, es geht um Bewahrung. Es geht darum, einen Ort zu schaffen, in dem das bisherige Denken anwesend ist und einen sicheren Platz hat.
Niemand fragt, wenn Bibliotheken Anschaffungen tätigen, wer dieses oder jenes Werk benötigen wird. Der Zweck des Sammelns ist nicht das spätere Verbrauchen und Benutzen, sondern das Sichern. Bibliotheken sind der sichere Ort des Denkens. In den Räumen einer Bibliothek, zwischen den Regalen, wird Denken möglich, hat das Denken seine Heimat. Bibliotheken sind Denk-Tempel, deshalb ermöglichen sie Kontemplation, sie sind der Lebensraum der vita contemplativa, des bios theoretikos. Werden die Menschen einen solchen Ort auch in 50 Jahren noch brauchen? Die Antwort lautet, aus jetziger Perspektive: Mehr denn je. Aber gleichzeitig erkennt man auch: Die moderne Bibliothek, als Dienstleistungszentrum der Wissens-Logistik, ist im Begriff, sich vom Wesen dessen, was einmal Bibliothek war, zu entfernen. Die Bücher sind in Kellermagazine verbannt, zwischen deren engen Metall-Regalen ein besinnliches Gespräch kaum mehr denkbar erscheint. Funktionalistische Lesesäle, soweit sie überhaupt noch für notwendig angesehen werden, laden kaum zur meditativen Kontemplation, zum besinnenden Nachdenken ein. Sie werden zur Andockstelle für Medienlesegeräte, die den Informationsumschlag optimieren, den Faktentransfer automatisieren und effektivieren.
Die Bibliothek der Zukunft wird dies nicht mehr leisten müssen, weil der weitere Ausbau der schnellen Kommunikationsnetze es nicht mehr notwendig machen wird, für das Abrufen von Informationen auch nur das Bett zu verlassen. Vielleicht wird es noch ein paar Büros für diejenigen geben, die Informationsstrukturen zu definieren und Portale zu programmieren haben werden - aber diese Menschen werden wohl nicht mehr Bibliothekare heißen.
Befreit von der Dienstleistungsfunktion, die sich in den letzten wenigen Jahrzehnten in einer in nach Funktionen und Leistungen optimierten Gesellschaft so sehr in den Vordergrund geschoben hat, dass man meinen könnte, sie sei der eigentliche Sinn der Bibliotheken, werden diese sich wieder auf ihre eigentliche Bedeutung, Tempel des Denkens zu sein, besinnen können.
Sie werden dazu all die faszinierenden Errungenschaften der technischen Entwicklungen nutzen können. Vielleicht werden hinter den Regalen 3D-Drucker verborgen sein, welche die Papyrus-Fragmente des Heraklit oder die erste Luther-Bibel so originalgetreu wiedergeben können, dass jeder, der erleben möchte, wie sie sich anfühlten, in den Genuss kommen kann, sie in die Hände zu nehmen und darin zu lesen. Vielleicht wird es sogar möglich sein, sich in diesen Exemplaren eigene Notizen zu machen, Sätze zu untersteichen und Eselsohren zu falten, ohne dass ein späterer Leser von den Spuren seiner Vorgänger behelligt wird.
Moderne Raumkonzepte werden das Gespräch zwischen Studierenden oder den Austausch mit den Lehrenden ebenso ermöglichen wie das stille Nachdenken und das Niederschreiben eigener Gedanken. Vielleicht werden die Räume auf einfache Weise individuell verändert werden können, während eine im hellen Licht sitzt, beugt sich ein anderer im Halbdunkel über sein Schreibgerät, und andere diskutieren angeregt, während sie durch Gänge oder Parkwege spazieren.
Vor allem aber werden Bibliotheken der Zukunft Orte der physischen Präsenz des Denkens sein, sowohl der denkenden lebenden Menschen, als auch der Gedanken der Vergangenen. Das Denken wird in ihren Räumen wieder anwesend sein, nicht flüchtig und "on demand", sondern dauernd und körperlich. Damit wird die Bibliothek auch einer weiteren Bedeutung gerecht, nämlich dass das Denken in ihnen alle Gefahren und Widrigkeiten, die ihm von den Menschen selbst drohen, überdauert. Die Bibliothek der Zukunft muss sich dieser Aufgabe, die nicht mit einer Funktion oder Dienstleistung verwechselt werden darf, auf neue Weise stellen. Denn sie muss dem Vorurteil begegnen, dass die Digitalisierung und Virtualisierung Garantien für die dauerhafte Sicherung des Wissens, das in den Büchern gesammelt ist, bieten.
Die Netze, in denen die Informationen und Daten zunehmend gespeichert werden, sind faszinierend, aber auch hoch komplex und wechselseitig voneinander abhängig. Strom muss fließen, Verbindungen müssen stehen, Server müssen erreichbar sein. Bibliotheken müssen, als Orte des Wissens, auch sichern, dass das Wissen der Gegenrationen und Jahrtausende nicht verloren ist, wenn die Netze, die es jetzt mehr und mehr halten und bereitstellen sollen, vielleicht einmal nicht mehr existieren. Das sind Visionen, über die wir heute kaum noch nachzudenken fähig sind, weil wir die Sicherheiten des technischen Fortschritts im Einzelnen zwar vielleicht bezweifelt, im Ganzen aber für unbezwingbar halten. Bibliotheken als Orte der Besinnung sollten zukünftig auch der Platz für solches Nachdenken sein.